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Der Europäische Bürgerbeauftragte - Rede: Der Bürger, das Rechtsstaatsprinzip und die Offenheit, Rede von Jacob Söderman, Europäischer Bürgerbeauftragter, an der Europarechtskonferenz, Stockholm, Schweden, 12. Juni 2001, Sitzung 8, 12. Juni 2001, 09.00-17.00 Uhr, 'Der Bedarf an Transparenz und öffentlichem Zugang - Überbrückung der Kluft zwischen der Union und ihren Bürgern'
Speech - Speaker Jacob SÖDERMAN - City Stockholm - Country Sweden
In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet. (Aus der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union).
1. Unionsbürgerschaft und Rechtsstaatsprinzip
Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht im November 1993 wurde jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaates zusätzlich Bürger der Europäischen Union(1). Zuvor hatten die Europäischen Gemeinschaften ihre Tätigkeit eher wie eine internationale Organisation ausgeübt und lediglich mit den Behörden der Mitgliedstaaten zusammengearbeitet. Das Europäische Parlament wird seit 1979 direkt gewählt, doch hatten die Bürger mit keiner der anderen Einrichtungen unmittelbaren Kontakt.
Gemäß den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten bedeutet Staatsbürgerschaft, dass die Beziehungen zwischen dem Einzelnen und den Behörden auf dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz der Demokratie beruhen. Die Europäische Union fußt auf diesen Grundsätzen, wie aus Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union und auch aus der Charta der Grundrechte zu entnehmen ist, die am 7. Dezember 2000 von der Präsidentin des Europäischen Parlaments, dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission in Nizza proklamiert wurde(2).
Das Rechtsstaatsprinzip gebietet, dass keine Person oder Einrichtung, und sei sie noch so mächtig, ungestraft gegen Recht und Gesetz verstoßen darf. Jeder Bürger kann zu Recht erwarten, dass nicht nur die anderen Bürger, sondern auch die öffentlichen Einrichtungen die Gesetze einhalten. Verstößt eine Behörde gegen eine verbindliche Vorschrift oder einen Grundsatz, so bedeutet das eine Gefahr sowohl für die Rechte des Einzelnen als auch für das demokratische Prinzip, wonach öffentliche Amtsträger den Bürgern gegenüber für ihr Handeln rechenschaftspflichtig sein sollten.
Der Rechtsbehelf bei nationalen Gerichten
Eine fundamentale Leistung der europäischen Integration besteht darin, dass sie dem Einzelnen Rechte sowohl gegenüber den Gemeinschaftseinrichtungen als auch gegenüber den Mitgliedstaaten verschafft. Seit seiner Entscheidung in der Rechtssache van Gend en Loos(3), hat der Gerichtshof in zunehmendem Maße den Grundsatz ausgestaltet, dass die nationalen Gerichte die Rechte geltend machen müssen, die der Einzelne im Rahmen des Gemeinschaftsrechts genießt. Die nationalen Gerichte sollten solche Rechte gegenüber öffentlichen Stellen durch Anwendung der direkt geltenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, Auslegung des innerstaatlichen Rechts und Zubilligung von Schadensersatz durchsetzen(4).
Damit hat der Gerichtshof ein dezentrales Verfahren für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip und der Logik des Vertragswerkes befördert. Die nationalen und nicht die Gemeinschaftsgerichte sind es, die den Rechten von Einzelpersonen gegenüber den Mitgliedstaaten unmittelbar Geltung verschaffen. Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs ist es, im Wege der Vorabentscheidung gemäß Artikel 234 EG-Vertrag dafür zu sorgen, dass alle nationalen Gerichte die gleichen Rechtsvorschriften anwenden.
Die Hüterin des Vertrages
Auch der EG-Vertrag sah von Anfang an ein zentrales Verfahren für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts vor. In dem heutigen Artikel 211 wird die Kommission aufgefordert, „für die Anwendung dieses Vertrags sowie der von den Organen aufgrund dieses Vertrags getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen". In dieser Funktion ist die Kommission im allgemeinen Sprachgebrauch als die „Hüterin des Vertrages" bekannt.
Den Mitgliedstaaten gegenüber haben die Gründer der Gemeinschaft der Kommission mit dem heutigen Artikel 226 EG-Vertrag (ex-Artikel 169) das wichtigste Durchsetzungsinstrument an die Hand gegeben:
Hat nach Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen, so gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab; sie hat dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben.
Kommt der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission den Gerichtshof anrufen.
Der Zweck der zentralen Anwendung des Gemeinschaftsrechts
Weshalb braucht die Union gleichzeitig eine zentrale Durchsetzung und ein dezentrales System? Hierfür gibt es zwei Gründe.
Erstens ist die Aufrechterhaltung des Rechtsstaatsprinzips eine Pflicht der öffentlichen Stellen, die nicht privaten Trägern übertragen werden kann, ohne dass das Prinzip selbst geopfert wird.
Zweitens erwarten die Bürger von öffentlichen Einrichtungen die Einhaltung der Gesetze; und zwar unabhängig davon, ob bei einer Nichteinhaltung ihre privaten Rechte betroffen wären.
Privatparteien sind nicht verpflichtet, zum Schutz ihrer Rechte Gerichte anzurufen. In vielen Fällen erscheint ihnen das zu kostenaufwendig. Darüber hinaus muss ein Bürger, der ein Gericht anrufen möchte, obwohl seine privaten Rechte nicht berührt sind, Rechtsmittel nach öffentlichem Recht einlegen, bei denen es zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten keine Harmonisierung gibt. Wie die Kommission erkannt hat, ist vielen Beschwerdeführern der Rechtsweg abgesehen von der Beschwerde an die Kommission versperrt(5).
Die zentrale und die dezentrale Rechtsanwendung ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Sie sind nicht als Alternativen zu verstehen. Dies wird durch die Tatsache belegt, dass die Kommission zumeist erst aus Beschwerden der Bürger erfährt, dass Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht nicht richtig anwenden. Im Jahre 1989 veröffentlichte die Kommission im Amtsblatt ein Standardformular für die Einreichung von Beschwerden. Die derzeitige Fassung des Beschwerdeformulars stammt aus dem Jahr 1999(6).
Wie wichtig die Aufgabe der Kommission als Hüterin des Vertrages ist, wurde von den Mitgliedstaaten auch in Erklärung 19 zur Schlussakte des Maastricht-Vertrages hervorgehoben(7). Diese Worte sind durch konkrete Maßnahmen zur Stärkung der zentralen Durchsetzung untersetzt worden:
- Das Recht, eine Petition an das Europäische Parlament zu richten, wird im Maastricht-Vertrag als Recht eines jeden Bürgers der Union anerkannt. Der Geltungsbereich des Petitionsrechts schließt Beschwerden über Verstöße von Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht ein. Über den Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments eingereichte Beschwerden dieser Art werden von der Kommission im Regelfall als Verstoßsachen registriert(8).
- Im Vertrag von Amsterdam wurde die Möglichkeit eines weiteren Verfahrens eingeräumt, wenn ein Mitgliedstaat einem Urteil des Gerichtshofs gemäß Artikel 226 nicht nachkommt. Die Kommission kann zum betreffenden Fall unter Berufung auf Artikel 228 EG-Vertrag erneut den Gerichtshof anrufen und die Höhe eines Zwangsgeldes benennen, die sie den Umständen nach für angemessen hält. Stellt der Gerichtshof fest, dass der Mitgliedstaat seinem Urteil nicht nachgekommen ist, so kann er die Zahlung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds verhängen(9).
- 1998 verabschiedete der Rat eine Verordnung mit speziellen Maßnahmen für den Fall, dass eine ernste Behinderung des freien Warenverkehrs dringende Maßnahmen erforderlich macht(10).
Darüber hinaus hat die Kommission Schritte ergriffen, um ihre Arbeitsweise bei Vertragsverletzungsverfahren zu verbessern(11). Sie hat sowohl auf ihr unerschütterliches Festhalten an der eigenen Rolle als Hüterin der Rechtsordnung der Gemeinschaft hingewiesen als auch auf die Bedeutung, die dieser Aufgabe von den Bürgern beigemessen wird(12).
Dennoch scheint die Kommission nie die offensichtlichen Auswirkungen der Unionsbürgerschaft und der Rechte der Unionsbürger auf das Verfahren nach Artikel 226 verinnerlicht zu haben.
2. Das Verfahren nach Artikel 226(13)
Das Verfahren nach Artikel 226 setzt ein, wenn die Kommission auf eine mutmaßliche Vertragsverletzung zum ersten Mal aufmerksam wird. Die Kommission überwacht selbst die Umsetzung von Richtlinien in einzelstaatliches Recht. Wie bereits erwähnt, verlässt sie sich dabei jedoch hauptsächlich auf die Beschwerden, in denen sie von Bürgern auf mutmaßliche Vertragsverletzungen bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch öffentliche Stellen in den Mitgliedstaaten aufmerksam gemacht wird.
Wenn die Kommission von einer mutmaßlichen Vertragsverletzung erfährt, erfasst sie den betreffenden Fall und führt eine Voruntersuchung durch. Handelt es sich um einen Fall, der ein Eingreifen erforderlich macht, so sendet die Kommission als Nächstes ein Mahnschreiben an den Mitgliedstaat. Dieses Schreiben enthält eine Stellungnahme zu den Verstößen, die dem Staat vorgeworfen werden, und setzt eine Frist, innerhalb derer diesem Gelegenheit zur Äußerung gegeben wird.
Ist diese Frist verstrichen, so besteht der nächste Schritt der Kommission darin, eine mit Gründen versehene Stellungnahme abzugeben. In der Stellungnahme wird eine Frist gesetzt, in der der Mitgliedstaat ihr nachzukommen hat.
Kommt der Mitgliedstaat den an ihn ergangenen Aufforderungen nicht vor Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme genannt ist, nach, so kann die Kommission in dieser Angelegenheit den Gerichtshof anrufen. Das Wort „kann" ist hierbei wichtig, weil es bedeutet, dass die Kommission nicht verpflichtet ist, jede Vertragsverletzung gerichtsanhängig zu machen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs belegt, dass die Entscheidung, das Gericht anzurufen oder nicht, in ihrem freien Ermessen liegt. Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass Einzelpersonen die Kommission nicht zwingen können, einen bestimmten Standpunkt einzunehmen. Ebenso wenig können sie gegen die Kommission vorgehen, wenn diese sich weigert, den Gerichtshof zu einer Vertragsverletzung anzurufen(14).
Die Rolle des Bürgers im Verfahren nach Artikel 226
Die vorstehende Beschreibung macht deutlich, dass die Kommission erst im Anschluss an ein Verwaltungsverfahren, das aus mehreren Schritten - Registrierung, Voruntersuchung, Mahnschreiben und mit Gründen versehene Stellungnahme - besteht, den Gerichtshof aus Gründen einer Vertragsverletzung anrufen kann.
Nach der herkömmlichen Auffassung betreffen Verfahren dieser Art nur die Kommission und die Mitgliedstaaten. Dieser Auffassung zufolge erscheint der Bürger im Verwaltungsverfahren nicht als Partei und besitzt keine Rechte. De facto wird er als Informant betrachtet. Die Kommission hat in ihrem Vierzehnten Jahresbericht zur Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts diese herkömmliche Auffassung wie folgt zum Ausdruck gebracht:
Der Bürger kann nicht Prozesspartei in diesem Verfahren sein, das seine persönliche Situation nicht ändern wird. Ihm fällt in erster Linie die Rolle zu, Verstöße aufzudecken und zu melden(15).
Dass das Vertragsverletzungsverfahren zum Zeitpunkt der Gründung der Gemeinschaft auf diese Weise gesehen wurde, leuchtet ein. Zu dieser Zeit unterschied sie sich noch nicht sehr von anderen internationalen Organisationen. Es gab noch keine Unionsbürger. Natürliche Personen wurden erst nach und nach als Subjekte der neuen Rechtsordnung der Gemeinschaft anerkannt.
Inzwischen hat der Vertrag von Maastricht die Unionsbürgerschaft und das Recht der Bürger auf Einbringung von Petitionen beim Europäischen Parlament, unter anderem auch zu Verstößen der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht, eingeführt. Darüber hinaus wurde durch den Maastricht-Vertrag das Amt des Europäischen Bürgerbeauftragten ins Leben gerufen, bei dem die Bürger über Missstände in der Verwaltung der Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft Beschwerde führen können. Der Vertrag von Amsterdam fügte dem die Forderung hinzu, dass Entscheidungen in der Union so offen wie möglich getroffen werden sollten, und in der Charta der Grundrechte ist erst vor kurzem das Recht auf eine gute Verwaltung verbrieft worden.
3. Das Engagement des Europäischen Bürgerbeauftragten zur Verbesserung des Verfahrens nach Artikel 226
Der Europäische Bürgerbeauftragte hatte seine Tätigkeit noch nicht lange aufgenommen, als bereits klar wurde, dass viele Bürger über den Umgang der Kommission mit Beschwerden über Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht unzufrieden waren. Dafür führten sie folgende Gründe an: den undurchsichtigen und zeitaufwendigen Charakter des Verfahrens nach Artikel 226; mangelnde Informationen über den Fortgang sowie die Einstellung von Verfahren ohne Angabe von Gründen. Beim Bürger entstand der Eindruck, dass sich die Kommission willkürlich und arrogant verhält und dass das Verfahren Raum für politisch motivierte Absprachen lässt.
Nachdem der Bürgerbeauftragte mit mehreren solchen Beschwerden befasst war, leitete er im April 1997 eine Untersuchung aus eigener Initiative zu den von der Kommission durchgeführten Verfahren ein. Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung bestand darin, dass die Kommission sich einverstanden erklärte, dem Beschwerdeführer vor Einstellung eines Verfahrens die Gründe für diese Einstellung mitzuteilen und ihm damit Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor die endgültige Entscheidung getroffen wird(16). Damit erfuhr der Beschwerdeführer einige Gründe für das Vorgehen der Kommission und erhielt in begrenztem Maße Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen. In einer im Jahre 2000 angebrachten kritischen Bemerkung vertrat der Bürgerbeauftragte die Auffassung, dass die Kommission dasselbe Verfahren hätte anwenden müssen, als sie beschloss, die Basis für die Bearbeitung der von einem Beschwerdeführer vorgetragenen Angelegenheit grundlegend zu ändern(17).
Ermessensbefugnis
Beim Bürgerbeauftragten gingen auch Beschwerden über Missstände bei der Wahrnehmung der Ermessensbefugnis der Kommission im Verfahren nach Artikel 226 ein(18). Er hat diese Fälle in Übereinstimmung mit den drei allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen geprüft, die immer dann zur Anwendung kommen, wenn ein öffentliches Organ bzw. eine Einrichtung von Rechts wegen befugt ist, sich zwischen mindestens zwei möglichen Vorgehensweisen zu entscheiden(19).
Erstens muss das Organ bzw. die Einrichtung die Grundanforderung an ein faires Verwaltungsverfahren beachten, wonach einer Person das Recht auf Stellungnahme eingeräumt werden sollte, bevor eine Entscheidung ergeht, durch die ihre Interessen berührt werden. Dieses Recht umfasst unter anderem die folgenden Komponenten:
(i) ausreichend Zeit für die Erarbeitung und Einreichung einer Stellungnahme,
(ii) hinreichende Informationen zur Grundlage der beabsichtigten Entscheidung, damit der Beschwerdeführer tatsächlich Gelegenheit erhält, sich zu allen relevanten Fragen zu äußern(20).
Zweitens muss das Organ bzw. die Einrichtung stets gute Gründe dafür anführen können, weshalb einer bestimmten Vorgehensweise der Vorzug gegeben wurde. Die Angabe der Gründe für eine bestimmte Vorgehensweise ist als normaler Bestandteil der Ausübung der Ermessensbefugnis anzusehen. Durch sie sollen die Betroffenen informiert und eine Überprüfung der Entscheidung erleichtert werden.
Drittens muss das Organ bzw. die Einrichtung die Ermessensbefugnis im Rahmen seiner bzw. ihrer legitimen Befugnisse wahrnehmen. Ermessenspielraum ist nicht gleichbedeutend mit diktatorischer Macht. Auch wenn eine sehr große Ermessensbefugnis vorliegt, sind dieser doch stets durch das geltende Recht Grenzen gesetzt. Allgemeine Einschränkungen dieser Befugnis wurden durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgenommen, der beispielsweise fordert, dass Verwaltungsbehörden widerspruchsfrei und in gutem Glauben handeln, Diskriminierung unterlassen, den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie den legitimen Erwartungen entsprechen und die Menschenrechte und Grundfreiheiten respektieren sollten.
Wenn sich das betreffende Organ bzw. die Einrichtung im Rahmen der legitimen Befugnisse bewegt hat, stellt der Bürgerbeauftragte die Berechtigung einer Ermessensentscheidung nicht in Frage.
4. Stärkung der Unionsbürgerschaft und des Rechtsstaatsprinzips
Der Beschwerdeführer als Prozesspartei im Verfahren nach Artikel 226
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union schließt in Artikel 41 das Recht auf eine gute Verwaltung ein. Hier ein Auszug aus dem Wortlaut:
1. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen und Einrichtungen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden.
2. Dieses Recht umfasst insbesondere:
- das Recht einer jeden Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird;
- das Recht einer jeden Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten unter Wahrung des legitimen Interesses der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses;
- die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen.
(….)
Im Thessaloniki-U-Bahn-Fall(21) brachte der Bürgerbeauftragte eine weitere kritische Bemerkung vor und empfahl der Kommission die Annahme eines Verfahrenskodex mit Richtlinien für die Behandlung der Beschwerdeführer in Verfahren nach Artikel 226, der dem in der Charta genannten Recht auf eine gute Verwaltung gerecht wird. Die Kommission hat daraufhin begonnen, die einschlägigen Abschnitte ihres Handbuchs der Arbeitsmethoden zu überarbeiten und sie auf der Europa-Website zu veröffentlichen(22). Diese konstruktive Maßnahme bedeutet einen Fortschritt für die Bürger.
Präsident Prodi und Kommissionsmitglied Vitorino haben sich vor kurzem folgendermaßen über die Charta geäußert:
Ihr grundlegender Charakter steht außer Zweifel. Bei ihrer Konzipierung und Formulierung ist mit größter Sorgfalt vorgegangen worden.
Die Kommission muss ebenso wie die anderen Einrichtungen die praktischen Auswirkungen dieses Ereignisses von historischer Tragweite im Blick behalten und dafür Sorge tragen, dass die in der Charta genannten Rechte zum Prüfstein ihres Handelns werden.
Dies muss als Hauptanforderung an die tagtägliche Arbeit der Kommission gelten - in ihren Beziehungen zur breiten Öffentlichkeit wie auch zu denen, an die sich unsere Entscheidungen richten, als auch mit Blick auf unsere internen Vorschriften und Verfahrensregelungen(23).
Für mich steht außer Zweifel, dass das in der Charta der Grundrechte genannte Recht auf eine gute Verwaltung auch auf die Verwaltungsschritte im Verfahren nach Artikel 226 Anwendung finden sollte. Dies sollte gelten, wenn der Bürger
(i) bei der Kommission in ihrer Rolle als Hüterin des Vertrages direkte Beschwerde einlegt oder
(ii) das in den Artikeln 21 und 194 EG-Vertrag sowie in Artikel 44 der Charta genannte Recht wahrnimmt, an das Europäische Parlament Petitionen zu Verstößen von Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht zu richten.
Der Bürger sollte demnach bei den einzelnen verwaltungstechnischen Schritten im Rahmen des Verfahrens zur Bearbeitung seiner Beschwerde als Prozesspartei anerkannt werden. Jedes andere Vorgehen wäre mit den Grundsätzen des europäischen Verwaltungsrechts unvereinbar. Man kann die Bürger nicht im EG-Vertrag anerkennen, um ihnen anschließend im Verwaltungsverfahren ihre Grundrechte abzusprechen und die Gegenpartei, nämlich den Mitgliedstaat, in eine privilegierte Lage zu versetzen.
Als Prozesspartei muss der Bürger gemäß Artikel 41 der Charta Zugang zu den Akten, die seine Beschwerde betreffen, erhalten. Nur durch uneingeschränkten Zugang zu der Akte, in der die Fakten des betreffenden Falls niedergelegt sind, kann das Recht auf eine gerechte Anhörung gewährleistet werden. Enthält eine Akte Informationen, die per Gesetz als vertraulich eingestuft wurden, so muss die betreffende Prozesspartei zur Wahrung der Vertraulichkeit verpflichtet sein. Darüber hinaus sind dem Bürger die Gründe für den Standpunkt zu nennen, den die Kommission am Ende des Verwaltungsverfahrens bezieht.
Offenheit und Effizienz gehen im Verfahren nach Artikel 226 Hand in Hand
Das Bekenntnis der Europäischen Union zu Offenheit wurde im Vertrag von Amsterdam erneut bekräftigt. Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union lautet nunmehr in der konsolidierten Fassung:
Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden.
Teilweise wird argumentiert, der Charakter des Vertragsverletzungsverfahrens bringe es mit sich, dass die verwaltungstechnischen Schritte aufgrund der legitimen Vertraulichkeitsinteressen, die es zu schützen gelte, nicht offen abgewickelt werden können. Die Kommission hat in ihrem im Januar 2001 veröffentlichten Vorschlag für eine Verordnung über den öffentlichen Zugang zu Dokumenten sogar noch eine neue Ausnahmeregelung für Vertragsverletzungsverfahren eingeführt. Glücklicherweise wurde dieser Gedanke verworfen, da der Rat und das Europäische Parlament sich weigerten, die vorgeschlagene neue Ausnahmeregelung zu akzeptieren.
Der gängige Standpunkt lautet, Vertraulichkeit befördere einen offenen und rückhaltlosen Dialog zwischen der Kommission und dem Mitgliedstaat, was wiederum notwendig sei, um den Mitgliedstaat zur Einhaltung seiner Verpflichtungen zu bewegen, worin der ganze Sinn und Zweck des Artikels 226 bestehe.
Dieses Argument erscheint nicht besonders überzeugend. Ich erkenne voll und ganz an, dass bei Vorliegen einer Vertragsverletzung durch einen Mitgliedstaat die Entscheidung über die bestmögliche Vorgehensweise im freien Ermessen der Hüterin des Vertrages liegt. Dies gilt auch für Verhandlungen mit dem Mitgliedstaat mit dem Ziel, eine korrekte Anwendung des Rechts zu erwirken. Eine Verpflichtung, die Angelegenheit in sämtlichen Fällen an den Gerichtshof zu verweisen, kann es nicht geben. Dennoch hat die Wahrung von Vertraulichkeit bei den verwaltungstechnischen Schritten vor einer etwaigen Anrufung des Gerichtshofs ein unausgewogenes Verfahren zur Folge. Die eine Prozesspartei, der Beschwerdeführer, wird in Unkenntnis darüber gehalten, was die Gegenpartei, der Mitgliedstaat, der Kommission in seiner Stellungnahme entgegnet. Das bedeutet, dass der Kommission häufig die Schuld für Verzögerungen oder mangelnde Zusammenarbeit gegeben wird, für die in Wirklichkeit der Mitgliedstaat die Verantwortung trägt. Darüber hinaus entsteht beim Bürger in manchen Fällen der Eindruck, als sei das Verfahren aus den falschen Gründen heraus eingestellt worden.
Wären die einzelnen verwaltungstechnischen Schritte des Vertragsverletzungsverfahrens öffentlich, so würde das den Mitgliedstaat mit Sicherheit veranlassen, sein Verhalten rascher zu ändern, um die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen. Somit würde Offenheit die Kommission in ihrer entscheidenden Aufgabe, das Rechtsstaatsprinzip sicherzustellen, bestärken. Außerdem könnten die Bürger das Verfahren verfolgen und sich davon überzeugen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.
Ein Justizkanzler?
Bei der Bearbeitung von Beschwerden muss die Kommission, wie versprochen, einen klaren Verfahrenskodex einführen, der auf dem Grundsatz beruht, dass ein beschwerdeführender Bürger als Partei im Verwaltungsverfahren anzusehen ist und in den Genuss aller im Gemeinschaftsrecht und in der Charta der Grundrechte vorgesehenen verfahrensrechtlichen Schutzmaßnahmen kommen sollte. Das Verfahren möglichst offen und transparent zu gestalten würde zu einer rascheren Bearbeitung von Beschwerden beitragen und die Bürger zugleich über die Aktivitäten der Kommission zur Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips in der Europäischen Union auf dem Laufenden halten.
Das Rechtsstaatsprinzip gebietet, jede unzulässige Einflussnahme auf den Entscheidungsprozess, z. B. durch Lobbyisten, zu vermeiden. Um Voreingenommenheit vorzubeugen und deren Entstehen zu verhindern, sollten diejenigen, deren Interessen - auch nationale Interessen - durch einen Fall berührt sind, nicht einbezogen werden. Aus diesen beiden Gründen sollten mit Vertragsverletzungsverfahren keine politischen Kabinette befasst werden.
Ein Weg hin zu einer ordnungsgemäßen und unparteiischen Behandlung des jeweiligen Falles könnte darin bestehen, dass der Entscheidungsprozess im Verfahren nach Artikel 226 innerhalb der Kommission einem Kommissionsmitglied übertragen wird, das als eine Art Generalstaatsanwalt fungiert. Eine Alternative hierzu wäre ein eigens für diesen Zweck eingesetzter Justizkanzler.
Dem Subsidiaritätsprinzip zufolge sollte die Kommission die einfacheren Fälle bereits bestehenden Einrichtungen in den Mitgliedstaaten übertragen, die die dortigen Behörden überwachen und sicherstellen, dass diese auf gesetzlicher Grundlage handeln. Beispiele dafür sind die nationalen und regionalen Bürgerbeauftragten und vergleichbare Einrichtungen. Der Europäische Bürgerbeauftragte und seine Kollegen in den Mitgliedstaaten haben bereits in allen Mitgliedstaaten ein Netzwerk der nationalen und regionalen Bürgerbeauftragten und vergleichbaren Einrichtungen aufgebaut. Wir sind zur Zusammenarbeit in diesem Bereich bereit, um zu einer besseren Anwendung des Gemeinschaftsrechts zum Vorteil der Bürger Europas beizutragen.
In anderen Fällen könnte Beschwerdeführern, die über die Möglichkeit zur Anstrengung von Gerichtsverfahren bei den nationalen Gerichten verfügen, hierzu geraten werden.
Solche Maßnahmen können der Hüterin des Vertrages helfen, ihren Pflichten gemäß Artikel 211 EG-Vertrag nachzukommen und dafür Sorge zu tragen, dass das Gemeinschaftsrecht in allen Mitgliedstaaten korrekt angewendet wird. Sie erlauben es ihr jedoch nicht, sich dieser Pflicht zu entziehen.
Die Bürger können der Union nicht wirklich vertrauen, wenn die Hüterin des Vertrages nicht gerecht und ordnungsgemäß handelt. Gegenwärtig sind die verwaltungstechnischen Schritte des Verfahrens nach Artikel 226 undurchsichtig und unklar, so dass keine Vertrauensbasis gegeben ist. Es wird Zeit, dieses antiquierte System zu reformieren und den Bürgern zu beweisen, dass die Union sich in der Tat auf das Rechtsstaatsprinzip gründet.
(1) Zur Bedeutung und den Auswirkungen der Unionsbürgerschaft siehe den allgemeinen Bericht des Europäischen Bürgerbeauftragten, Jacob Söderman, zum Thema Der Bürger, die Verwaltung und das Gemeinschaftsrecht auf dem FIDE-Kongress 1998. Der Bericht liegt auf der Webseite des Bürgerbeauftragten in englischer und französischer Sprache vor: http://www.ombudsman.europa.eu/FIDE/EN/Default.htm.
(2) ABl. Nr. C 364/1 vom 18.12.2000.
(3) Van Gend und Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Rechtssache 26/62, Slg. 1963, 1.
(4) Zu den klassischen Behördenrechtssachen gehören: Defrenne/Sabena, Rechtssache 43/75, Slg. 1976, S. 455; Van Duyn/Home Office, Rechtssache 41/74, Slg. 1974, S. 1337; Marleasing, Rechtssache C-106/89, Slg. 1990, S. I-4135; Francovich und Bonifaci/Italien, Rechtssachen C-6/90 und 9/90, Slg. 1991, S. I-5357; Brasserie du Pêcheur/Deutschland und The Queen/Secretary of State, ex parte: Factortame Ltd. und andere, Rechtssachen C-46/93 und C-48/ 93, Slg. 1996, S. I-1029.
(5) Dreizehnter Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, KOM(96) 600 endg., ABl. Nr. C 303 vom 14.10.1996, S. 1, Vorwort S. 6.
(6) ABl. Nr. C 119 vom 30.04.1999, S. 5.
(7) Erklärung 19 Absatz 2:
Die Konferenz fordert die Kommission auf, in Wahrnehmung der ihr durch Artikel 155 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten darauf zu achten, dass die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nachkommen. Sie ersucht die Kommission, für die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament regelmäßig einen umfassenden Bericht zu veröffentlichen.
(8) Siehe Bericht des Petitionsausschusses über die Petition als Institution zu Beginn des 21. Jahrhunderts, März 2001, A5-0088/2001 (Berichterstatter: Margot Kessler und Roy Perry).
(9) Siehe z. B. Rechtssache C-387/97, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, S. I-5047, in der der Gerichtshof für jeden Verzugstag bei der Umsetzung der Maßnahmen, die notwendig gewesen wären, um seinem früheren Urteil nachzukommen, eine Geldbuße in Höhe von 20 000 EUR festsetzte.
(10) Verordnung Nr. 2679/98 des Rates, ABl. Nr. L 337 vom 12.12.1998, S. 8. Siehe auch Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2679/98, KOM(2001) 160 endg.
(11) SEK (1998) 1733 vom 15.10.98.
(12) Siebzehnter Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (1999), KOM(2000) 92 endg.
(13) Siehe dazu im Allgemeinen A. Mattera, „La procédure en manquement et la protection des droits des citoyens et des opérateurs lésés", 1995/3 Revue du Marché Unique, 123-166, „Assurer une protection plus efficace des citoyens et des opérateurs économiques dans le cadre des voies de recours prévues par le droit communautaire", in A. Mattera (sous la direction de) La Conférence intergouvernementale sur l'union européenne: répondre aux défis du XXIe siècle, Clément Juglar, 1996.
(14) Kommission/Deutschland, Rechtssache C-191/95, Slg. 1998, S. I-5449, Pkt. 46; Star Fruit/Kommission, Rechtssache 247/87, Slg. 1989, S. 291; Sonito/Kommission, Rechtssache 87/89, Slg. 1990, S. I-1981; Smanor SA, Hubert Ségaud und Monique Ségaud/ Kommission, Beschluss des Gerichts Erster Instanz (Zweite Kammer) vom 16. Februar 1998. Rechtssache T-182/97, Slg. 1998, S. II-0271.
(15) KOM(97) 299 endg., ABl. Nr. C 332 vom 3.11.1997, S. 1, Einleitung zu Abschnitt II A. Siehe auch Jean-Louis Dewost, „Le rôle de la Commission européenne" (Die Rolle der Europäischen Kommission), in: European Ombudsman, The Rights of Citizens of the European Union, Proceedings of the seminar held on 12-13 September 1996, Strasbourg (Europäischer Bürgerbeauftragter: Die Rechte der Bürger der Europäischen Union. Sitzungsberichte des Seminars am 12.-13. September 1996 in Straßburg).
(16) Untersuchung aus eigener Initiative Nr. 303/97, Jahresbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten 1997, S. 270.
(17) Beschwerde Nr. 161/99, Entscheidung vom 13. September 2000.
(18) Siehe Bescherde Nr. 175/97: Jahresbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten 1998, S. 95; Beschwerde Nr. 176/97: Jahresbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten 1998, S. 97; Beschwerde Nr. 995/98 vom 30. Januar 2001 (U-Bahn Thessaloniki).
(19) Zu diesen Grundsätzen siehe u. a. das vom Europarat veröffentlichte Handbuch: The Administration and You: a handbook (Die Verwaltung und Du), 1996, S. 362.
(20) Siehe Entscheidung des Bürgerbeauftragten zum Thessaloniki-U-Bahn-Fall (Fall Nr. 995/98) vom 30. Januar 2001.
(21) Beschwerde 995/98, Entscheidung vom 30. Januar 2001.
(22) Schreiben von David O'Sullivan, Generalsekretär der Kommission, an den Bürgerbeauftragten vom 15. Mai 2001.
(23) Auszug aus einer Mitteilung des Präsidenten und Herrn VITORINOS, SEK(2001)380/3 vom 13. März 2001.
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