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Europäische Bürgerbeauftragte Entwurf einer Empfehlung an den Rat der Europäischen Union im Zusammenhang mit der Beschwerde 2395/2003/GG

(unterbreitet gemäß Artikel 3 Absatz 6 des Statuts des Europäischen Bürgerbeauftragten(1))

DIE BESCHWERDE

Der Standpunkt der Beschwerdeführer

Im Dezember 2003 beschwerten sich die Beschwerdeführer, ein der CDU („Christlich Demokratische Union Deutschlands“) angehörendes MdEP und ein Vertreter der Jugendorganisation der gleichen Partei beim Bürgerbeauftragten darüber, dass die Tagungen des Rates, wenn er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber zusammentritt, nur in dem durch Artikel 8 und 9 der Geschäftsordnung des Rates vom 22. Juli 2002 (ABl. L 230 vom 28. August 2002, S. 7) vorgegebenen Maße öffentlich sind.

Die einschlägigen Bestimmungen

Artikel 8 und 9 der Geschäftsordnung des Rates lauten wie folgt:

„Artikel 8
Öffentliche Beratungen des Rates und öffentliche Aussprachen

1. Die Beratungen des Rates über gemäß dem Mitentscheidungsverfahren nach Artikel 251 des EG-Vertrags zu erlassende Rechtsakte sind in folgendem Maße öffentlich:

a) Die Ausführungen der Kommission zu ihren wichtigsten Rechtsetzungsvorschlägen und die anschließende Aussprache im Rat sind öffentlich. Die Liste dieser Vorschläge wird jeweils zu Beginn des Halbjahres von dem gemäß Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a) einberufenen Rat „Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen“ auf Empfehlung des Vorsitzes und in Absprache mit der Kommission festgelegt.

b) Die Abstimmung über Rechtsetzungsakte sowie die ihr vorausgehenden letzten Beratungen des Rates und die Erklärungen zur Stimmabgabe sind öffentlich.

Die Öffentlichkeit der Beratungen des Rates wird in solchen Fällen dadurch sichergestellt, dass die Ratstagung audiovisuell übertragen wird, insbesondere in einen „Mithörsaal“. Die Abstimmungsergebnisse werden visuell angezeigt.

Das Generalsekretariat informiert die Öffentlichkeit so weit wie möglich rechtzeitig über Tag und voraussichtliche Uhrzeit der audiovisuellen Übertragung und trifft die praktischen Vorkehrungen zur korrekten Anwendung dieses Absatzes.

2. Der gemäß Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a) einberufene Rat „Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen“ führt einmal im Jahr eine öffentliche Orientierungsaussprache über das operative Jahresprogramm des Rates sowie gegebenenfalls über das jährliche Arbeitsprogramm der Kommission. Diese jährliche Orientierungsaussprache wird für die Öffentlichkeit audiovisuell übertragen.

3. Der Rat hält nach einem mit qualifizierter Mehrheit gefassten Beschluss des Rates oder des AStV mindestens eine öffentliche Aussprache über andere als die in Absatz 1 genannten wichtigen neuen Rechtsetzungsvorschläge.

Der Rat oder der AStV kann im Einzelfall mit qualifizierter Mehrheit beschließen, dass auch andere öffentliche Aussprachen über wichtige Fragen abgehalten werden, welche die Interessen der Union berühren.

Es obliegt dem Vorsitz, den Ratsmitgliedern oder der Kommission, spezifische Fragen oder Themen für solche Aussprachen vorzuschlagen. Diese Aussprachen werden von den audiovisuellen Medien für die Öffentlichkeit übertragen.

Such debates shall be the subject of public transmission by audiovisual means.

Artikel 9
Öffentlichkeit der Abstimmungen, Erklärungen zur Stimmabgabe und Protokolle

1. Wenn der Rat über die Fälle hinaus, in denen seine Beratungen nach Artikel 8 Absatz 1 öffentlich sind, als Gesetzgeber im Sinne des Artikels 7 tätig wird, so werden die Abstimmungsergebnisse und die Erklärungen der Ratsmitglieder zur Stimmabgabe sowie die Erklärungen zum Ratsprotokoll und die im Ratsprotokoll enthaltenen und die Verabschiedung von Rechtsetzungsakten betreffenden Punkte veröffentlicht.

Dieselbe Regel gilt für

a) die Abstimmungsergebnisse und die Erklärungen zur Stimmabgabe sowie die Erklärungen für das Ratsprotokoll und die im Ratsprotokoll enthaltenen und die Festlegung eines gemeinsamen Standpunkts gemäß Artikel 251 oder Artikel 252 des EG-Vertrags betreffenden Punkte;

b) die Stimmabgabe und die Stimmabgabeerklärungen der Ratsmitglieder oder ihrer Vertreter in dem gemäß Artikel 251 des EG-Vertrags eingesetzten Vermittlungsausschuss sowie die Erklärungen für das Ratsprotokoll und die im Ratsprotokoll enthaltenen und die Sitzung des Vermittlungsausschusses betreffenden Punkte;

c) die Abstimmungsergebnisse und die Erklärungen zur Stimmabgabe sowie die Erklärungen für das Ratsprotokoll und die im Ratsprotokoll enthaltenen und die Annahme eines Übereinkommens auf der Grundlage von Titel VI des Vertrags über die Europäische Union betreffenden Punkte.

2. Die Abstimmungsergebnisse werden ferner veröffentlicht,

a) wenn der Rat im Rahmen des Titels V des EU-Vertrags handelt, nach einstimmigem Beschluss des Rates oder des AStV auf Antrag eines ihrer Mitglieder;

b) wenn der Rat einen gemeinsamen Standpunkt im Sinne des Titels VI des EU-Vertrags festlegt, nach einstimmigem Beschluss des Rates oder des AStV auf Antrag eines ihrer Mitglieder;

c) in den anderen Fällen nach Beschluss des Rates oder des AStV auf Antrag eines ihrer Mitglieder.

In den Fällen, in denen die Abstimmungsergebnisse des Rates gemäß den Buchstaben a), b) und c) veröffentlicht werden, können auf Antrag der betroffenen Ratsmitglieder auch die bei der Abstimmung abgegebenen Erklärungen zur Stimmabgabe im Einklang mit dieser Geschäftsordnung und unter Wahrung der Rechtssicherheit und der Interessen des Rates veröffentlicht werden.

Die in das Ratsprotokoll aufgenommenen Erklärungen und diejenigen Punkte dieses Protokolls, die die Annahme der Rechtsakte gemäß den Buchstaben a), b) und c) betreffen, werden durch Beschluss des Rates oder des AStV auf Antrag eines ihrer Mitglieder veröffentlicht.

3. Bei Entscheidungsprozessen, die zu Probeabstimmungen oder zur Annahme vorbereitender Rechtsakte führen, werden die Abstimmungsergebnisse nicht veröffentlicht."

Die Argumente der Beschwerdeführer

Die Beschwerdeführer wiesen darauf hin, dass der Rat neben dem Europäischen Parlament das Gesetzgebungsorgan der Europäischen Union sei. Seine Entscheidungen würden sich auf das Leben der Bürger Europas auswirken. Trotz dieser zentralen Bedeutung tage der Rat nur in Ausnahmefällen und nur beschränkt öffentlich.

Die Beschwerdeführer stellten fest, dass Artikel 49 Absatz 2 des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, der im Jahre 2003 vom Konvent erstellt wurde, wie folgt lautet:

„Das Europäische Parlament tagt öffentlich; dies gilt auch für den Ministerrat, wenn er über Gesetzgebungsvorschläge berät oder beschließt.“

Die Beschwerdeführer hoben jedoch hervor, dass diese Vertragsklausel erst in Kraft treten könne, nachdem der Entwurf für einen Europäischen Verfassungsvertrag von den Mitgliedstaaten angenommen und der Vertrag anschließend von allen Mitgliedstaaten der Union ratifiziert worden sei.

Nach Auffassung der Beschwerdeführer würde eine Vielzahl von rechtlichen und politischen Gründen dafür sprechen, die Öffentlichkeit der Tagungen des Rates schon jetzt zu ermöglichen.

Die Beschwerdeführer wiesen darauf hin, dass die Öffentlichkeit der Tagungen des Rates, die er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber abhalte, mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung ohnehin zur politischen Praxis werde. Das Ergebnis des Konvents und die Reaktionen auf europäischer und nationaler Ebene ließen aber keinen Zweifel daran, dass in Europa die Überzeugung entstanden sei, dass es richtig sei, dass der Rat öffentlich tagen solle, weil dies das Vertrauen der Bürger in die in Brüssel getroffenen Entscheidungen stärken würde.

Sie machten ferner geltend, dass die derzeitige Praxis des Rates nicht mit dem in Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Ziele in Einklang stehe, wonach die Entscheidungen in der Union „möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“. Die Transparenz des gemeinschaftlichen Handelns müsse heutzutage als allgemeiner Rechtsgrundsatz begriffen werden, der sich in der Geschäftsordnung des Rates voll und ganz widerspiegeln sollte.

Der Ausschluss der Öffentlichkeit diene auch keinen höherrangigen Zielen; vielmehr würden dadurch lediglich die Regierungen in den Mitgliedstaaten vor genauer Beobachtung durch die europäische Öffentlichkeit bewahrt. Dem Prozess der europäischen Einigung und den Bürgern würden daraus nur Nachteile erwachsen.

Die vorgeschlagene Änderung der Geschäftsordnung des Rates würde ein klares Signal für die Bürgerinnen und Bürger darstellen, die dadurch enger in die EU eingebunden würden.

Nach Auffassung der Beschwerdeführer sollte die Geschäftsordnung des Rates dahin gehend geändert werden, dass vorgesehen wird, der Rat solle in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber immer öffentlich tagen.

Kontaktaufnahme zwischen den Beschwerdeführern und dem Rat

Am 18. September 2003 richteten die Beschwerdeführer einen offenen Brief betreffend diese Frage an den Rat und an den Bürgerbeauftragten (bei dem das Schreiben am 17. Oktober 2003 einging).

In seiner Antwort vom 20. Oktober 2003 setzte der Bürgerbeauftragte die Beschwerdeführer davon in Kenntnis, dass sie vor der etwaigen Einreichung einer Beschwerde die angemessenen vorherigen Schritte beim Rat unternehmen müssten.

Am 19. November 2003 beantwortete der Rat den offenen Brief der Beschwerdeführer. Herr Solana wies darauf hin, dass Artikel 8 der Geschäftsordnung des Rates den Kompromiss wiedergebe, auf den sich der Europäische Rat auf seiner Tagung in Sevilla geeinigt hätte. Die einer Abstimmung über Rechtsetzungsakte vorausgehenden Beratungen des Rates seien bereits öffentlich und würden dem interessierten Publikum mit audiovisuellen Mitteln zugänglich gemacht. Dies gelte auch für die Vorstellung der wichtigsten Rechtsetzungsvorschläge der Kommission und die anschließende Aussprache im Rat. Damit sei in der Praxis bereits heute ein wesentlicher Teil der Tätigkeit des Rates als Gesetzgeber öffentlich. Darüber hinaus seien beinahe alle Dokumente des Rates, die sich auf seine Rechtsetzungstätigkeit beziehen würden, in Anwendung der Verordnung Nr. 1049/2001 zugänglich. Die zu gewährleistende Öffentlichkeit der legislativen Beratungen des Rates sei ein Anliegen, das – wie die Beratungen des Konvents zeigen würden – weitestgehende Unterstützung finde. Der Vorschlag der Beschwerdeführer solle deshalb im Rahmen der Vorbereitung der Umsetzung des neuen Vertrags erneut geprüft werden.

DIE UNTERSUCHUNG

Die Stellungnahme des Rates

In seiner Stellungnahme machte der Rat folgende Anmerkungen:

Der Rat erkenne die große Bedeutung des Grundsatzes der Offenheit an, der unter anderem in Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sei. Die betreffende Bestimmung sei jedoch allgemein formuliert und stelle eher auf ein Ziel ab, als dass sie eine absolute Regel enthalte. Der Wortlaut der Vorschrift sei programmatisch, was eindeutig aus der Formulierung „stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union ... dar“ hervorgehe.

Die derzeitige Praxis im Rat hinsichtlich der Öffentlichkeit seiner Tagungen stehe mit seiner Geschäftsordnung im Einklang. Die Beschwerdeführer schienen aber zu argumentieren, dass die Geschäftsordnung selbst einen Missstand darstelle. Die Annahme der Geschäftsordnung (deren unmittelbare Rechtsgrundlage Artikel 207 Absatz 3 des EG-Vertrags sei) sei eine politische und institutionelle Angelegenheit. Artikel 8 und 9 der Geschäftsordnung seien aufgrund eines Kompromisses geändert worden, der auf der Tagung des Europäischen Rates im Juni 2002 in Sevilla zwischen den Mitgliedstaaten erzielt worden sei.

In dem vom Konvent erstellten Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa sei vorgesehen, dass der Rat öffentlich tage, wenn er über Gesetzgebungsvorschläge berate oder beschließe. Allein die Tatsache, dass eine solche Vorschrift in die Verfassung (bzw. den Entwurf) aufgenommen worden sei, würde bestätigen, dass es hier nicht um einen Missstand oder um Verwaltungspraxis gehe, sondern dass es sich um eine rechtliche und politische Frage handele, die nicht in den Aufgabenbereich des Bürgerbeauftragten falle.

Der Rat wies ferner auf die bestehenden Vereinbarungen zur Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Tätigkeit des Rates als Gesetzgeber hin, u.a. den möglichen Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten gemäß der Verordnung Nr. 1049/2001.

Vor diesem Hintergrund vertrat der Rat die Auffassung, dass kein Missstand vorliege und dass die von den Beschwerdeführern aufgeworfene Frage außerhalb des Aufgabenbereichs des Bürgerbeauftragten liege.

Die Anmerkungen der Beschwerdeführer

In ihren Anmerkungen erhielten die Beschwerdeführer ihre Beschwerde aufrecht. Sie führten an, die Tatsache, dass Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union eine allgemein formulierte Zielsetzung und keine absolute Regel darstelle, stehe nicht im Gegensatz zu ihrer Forderung, dass der Rat öffentlich tagen solle. Vielmehr ergebe sich gerade aus der programmatischen Bedeutung der Bestimmung und dem Ziel „möglichst“ offen getroffener Entscheidungen das Gebot, dieses Prinzip in der Praxis zu fördern. Für ein Organ der Gesetzgebung wie den Rat oder das Europäische Parlament stelle die Öffentlichkeit der Tagungen die klassische Form der Offenheit der Entscheidungsfindung dar, wie sie von den gesetzgebenden Kammern aller Mitgliedstaaten der Union praktiziert werde.

Die Befugnis zur Organisation seiner inneren Angelegenheiten entbinde den Rat nicht von seiner Verpflichtung, die Grundsätze der Union zu beachten und zu fördern. Die tatsächliche Ausgestaltung der Geschäftsordnung und deren Umsetzung könnten daher im Konflikt mit höherrangigen Prinzipien stehen und insoweit auch einen Missstand darstellen.

Mit dem Abschluss der Arbeiten im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Verfassungsvertrags im Juli 2003 sei eine qualitativ neue Entwicklung bezüglich des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Tagungen, die der Rat als Gesetzgeber abhalte, festzustellen. Spätestens mit der Annahme der Verfassung durch die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten werde aus diesem Grundsatz ein allgemeiner Rechtsgrundsatz.

Weitere Untersuchungen

Nach sorgfältiger Prüfung der Stellungnahme des Rates und der Anmerkungen der Beschwerdeführer stellte sich die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen heraus.

Ersuchen um weitere Informationen

Der Bürgerbeauftragte richtete deshalb Ende Juni 2004 ein Schreiben an den Rat, in dem er feststellte, dass Artikel 49 Absatz 2 des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa auch in den Verfassungsvertrag aufgenommen worden sei, der vom Europäischen Rat auf seiner Tagung in Brüssel wenige Tage zuvor angenommen worden sei. Der Bürgerbeauftragte wies darauf hin, dass dieser Vertrag zwar von den Mitgliedstaaten noch nicht ratifiziert worden sei, aber von allen Mitgliedstaaten akzeptiert worden sei. Er stellte ferner fest, dass die Geschäftsordnung des Rates vom Rat angenommen werde, d.h., von den Vertretern der Mitgliedstaaten.

Vor diesem Hintergrund ersuchte der Bürgerbeauftragte den Rat, ihm mitzuteilen, welche Hindernisse (falls es solche geben sollte) nunmehr, da der Verfassungsvertrag (einschließlich der oben genannten Bestimmung) von den Mitgliedstaaten angenommen worden sei, seines Erachtens der Durchführung der von den Beschwerdeführern geforderten Änderung seiner Geschäftsordnung im Wege stünden.

Die Antwort des Rates

In seiner Antwort unterstrich der Rat erneut, dass er der Frage der Transparenz große Bedeutung beimesse. Er stellte fest, dass der Verfassungsvertrag noch von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden müsse. Allein schon die Tatsache, dass Artikel 49 dem Teil I des Verfassungsvertrags hinzugefügt worden sei, verdeutliche, dass es sich bei dem Beschwerdegegenstand um eine politische und verfassungsrechtliche Frage und nicht etwa um einen Missstand handele.

Abschließend vertrat der Rat erneut die Ansicht, dass kein Missstand vorliege, da er in voller Übereinstimmung mit den geltenden einschlägigen Vorschriften gehandelt habe.

Die Anmerkungen der Beschwerdeführer

Es gingen keine Anmerkungen der Beschwerdeführer ein.

DIE ENTSCHEIDUNG

1 Der Aufgabenbereich des Bürgerbeauftragten

1.1 Im Dezember 2003 beschwerten sich die Beschwerdeführer, ein der CDU angehörendes MdEP und ein Vertreter der Jugendorganisation der gleichen Partei, beim Bürgerbeauftragten darüber, dass die Tagungen des Rates, wenn er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber zusammentrete, nur in den durch die Artikel 8 und 9 der Geschäftsordnung des Rates vom 22. Juli 2002 (ABl. L 230 vom 28. August 2002, S. 7) vorgegebenen Maße öffentlich seien. Die Beschwerdeführer machten im Wesentlichen geltend, dass die derzeitige Praxis des Rates nicht mit dem in Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Ziel im Einklang stehe, dem zufolge die Entscheidungen in der Union „möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“.

1.2 In seiner Stellungnahme machte der Rat geltend, dass es bei der von den Beschwerdeführern aufgeworfenen Frage nicht um einen Missstand oder um Verwaltungspraxis gehe, sondern dass es sich um eine rechtlich und politische Frage handele, die nicht in den Aufgabenbereich des Bürgerbeauftragten falle. Der Rat vertrat ferner die Ansicht, dass kein Missstand vorliege, da er in voller Übereinstimmung mit den geltenden einschlägigen Vorschriften gehandelt habe.

1.3 Gemäß Artikel 195 des EG-Vertrags hat der Bürgerbeauftragte die Aufgabe, Missstände bei der Tätigkeit der Organe oder Institutionen der Gemeinschaft zu untersuchen. Der Vertrag enthält keine Definition des Begriffs „Missstand“. Im Jahresbericht für 1997(2) bot der Bürgerbeauftragte, nachdem das Europäische Parlament um Klärung gebeten hatte, die folgende Begriffsbestimmung an: „Ein Missstand ergibt sich, wenn eine öffentliche Einrichtung nicht im Einklang mit für sie verbindlichen Regeln oder Grundsätzen handelt.“ Diese Definition wurde in der Folge vom Europäischen Parlament begrüßt(3).

1.4 Vor diesem Hintergrund vertritt der Bürgerbeauftragte die Auffassung, dass die Tatsache, dass die derzeitige Praxis des Rates in Einklang mit den geltenden Vorschriften steht, die er selber angenommen hat, nicht bedeutet, dass kein Missstand vorliegen könnte. Eine von einem Organ oder einer Einrichtung der Gemeinschaft angenommene Maßnahme kann immer noch einen Missstand darstellen, wenn sie nicht einem für dieses Organ oder diese Einrichtung verbindlichen Grundsatz entspricht.

1.5 Der Rat macht geltend, dass die Entscheidung über das Ausmaß, in dem er die Öffentlichkeit zu den Tagungen zulasse, die er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber abhalte, eine politische Entscheidung sei, die außerhalb des Aufgabenbereichs des Bürgerbeauftragten liege. Der Bürgerbeauftragte erkennt an, dass die Annahme der Geschäftsordnung des Rates auf der Grundlage von Artikel 207 Absatz 3 des EG-Vertrags eine politische und institutionelle Angelegenheit ist, über die der Rat selbst zu entscheiden hat. Die vorliegende Beschwerde betrifft jedoch nicht die Art und Weise, in der der Rat seine inneren Verfahren organisiert, sondern die Frage, ob die Öffentlichkeit von den Tagungen des Rates, die er als Gesetzgeber abhält, ausgeschlossen werden kann. Wie die Beschwerdeführer zu Recht festgestellt haben, tagen die Gesetzgebungsorgane in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union öffentlich. Gemäß Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union sollen die Entscheidungen in der Union „möglichst offen“ getroffen werden. Unter diesen Umständen vertritt der Bürgerbeauftragte die Auffassung, dass der Rat nicht zweifelsfrei nachgewiesen hat, dass die Frage des Zugangs der Öffentlichkeit zu seinen Tagungen eine rein politische Frage ist, die deshalb keiner Prüfung unterliegen sollte.

1.6 Der Rat hat ferner angeführt, dass allein schon die Tatsache, dass eine Bestimmung wie Artikel 49 Absatz 2 dem Teil I des Entwurfs des Verfassungsvertrags hinzugefügt worden sei, verdeutliche, dass es sich beim Beschwerdegegenstand um eine politische und verfassungsrechtliche Frage und nicht um einen Missstand handele. Dieses Argument überzeugt den Bürgerbeauftragten nicht. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Bürger sich selbst über die Tätigkeit der Gesetzgebungsorgane informieren können. Das beste Mittel, um dies zu erreichen, besteht zweifelsohne darin, die Öffentlichkeit zu den Beratungen der betreffenden Gesetzgebungsorgane zuzulassen. Angesichts der Bedeutung des Grundsatzes der Offenheit in diesem Bereich ist es nicht verwunderlich, dass eine Bestimmung, in der dieser Grundsatz verankert wird, zunächst in den Entwurf eines Verfassungsvertrags und anschließend in den Vertrag über eine Verfassung für Europa aufgenommen wurde, der von den Mitgliedstaaten auf der Tagung des Europäischen Rates im Juni 2004 in Brüssel angenommen wurde(4).

1.7 Um einem etwaigen Missverständnis vorzubeugen, erscheint es sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass die vorliegende Beschwerde nicht die gesetzgeberische Tätigkeit des Rates als solche betrifft, sondern die Frage, ob die Tagungen des Rates, wenn er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber zusammentritt, öffentlich sein sollten.

1.8 Vor diesem Hintergrund vertritt der Bürgerbeauftragte die Auffassung, dass die in der vorliegenden Beschwerde aufgeworfene Frage in seinen Aufgabenbereich gemäß Artikel 195 des EG-Vertrags fällt.

2 Die mangelnde Öffentlichkeit der Tagungen des Rates, die er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber abhält

2.1 Die Beschwerdeführer machen im Wesentlichen geltend, dass die derzeitige Praxis des Rates, die Öffentlichkeit nicht zu allen Tagungen zuzulassen, die er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber abhalte, nicht im Einklang mit dem in Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union verankerten Ziel stehe, wonach die Entscheidungen in der Union „möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“.

2.2 Der Rat stimmt darin überein, dass der Grundsatz der Offenheit, der unter anderem in Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt ist, große Bedeutung hat. Er führt jedoch an, dass diese Bestimmung allgemein formuliert sei und eher auf ein Ziel abstelle, als dass sie eine absolute Regel enthalte. Auch sei der Wortlaut dieser Vorschrift programmatisch. Der Rat vertritt deshalb die Ansicht, dass seine derzeitige Praxis, die den Artikeln 8 und 9 seiner Geschäftsordnung entspreche, keinen Missstand darstelle.

2.3 Der Bürgerbeauftragte stimmt mit dem Rat überein, dass Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union keine präzise Vorschrift, sondern eher einen allgemeinen Grundsatz enthält. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass mit dieser Bestimmung die Organe und Einrichtungen angewiesen werden, dafür zu sorgen, dass alle Entscheidungen auf der Ebene der EU „möglichst“ offen getroffen werden. Der Bürgerbeauftragte ist deshalb der Ansicht, dass geprüft werden sollte, ob es möglich wäre, die Öffentlichkeit zu allen Tagungen des Rates zuzulassen, die der Rat in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber abhält, und ob es, falls dem so ist, dennoch gute Gründe dafür gibt, dies nicht zu tun.

2.4 Der Bürgerbeauftragte stellt fest, dass, wie der Rat selbst betont hat, bereits zum jetzigen Zeitpunkt einige der Tagungen, die er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber abhält, entsprechend den in Artikel 8 und 9 der Geschäftsordnung des Rates festgelegten Bestimmungen öffentlich sind. Diese Geschäftsordnung hat sich der Rat, der aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats besteht (Artikel 203 des EG-Vertrags), selbst gegeben. Der Bürgerbeauftragte stellt fest, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Oktober 2004 den Vertrag über eine Verfassung für Europa unterzeichnet haben, der ausdrücklich die Bestimmung enthält, dass der Rat öffentlich tagt, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät oder abstimmt. Obwohl dieser Vertrag noch nicht von den Mitgliedstaaten nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Verfahren ratifiziert worden ist, ist der Bürgerbeauftragte der Ansicht, dass allein die Tatsache, dass die Vertreter der Mitgliedstaaten glaubten, einer solchen Bestimmung zustimmen zu können, darauf hindeutet, dass es möglich wäre, schon jetzt die Öffentlichkeit zu allen entsprechenden Tagungen zuzulassen. In Anbetracht der Möglichkeit, dass er in diesem Zusammenhang wichtige Überlegungen außer Acht gelassen haben könnte, bat der Bürgerbeauftragte den Rat im Juni 2004 schriftlich darum, ihm mitzuteilen, welche Hindernisse, falls es solche geben sollte, nun, da der Verfassungsvertrag (einschließlich der oben genannten Bestimmung) von den Mitgliedstaaten angenommen worden war, seines Erachtens der Durchführung der von den Beschwerdeführern geforderten Änderung seiner Geschäftsordnung im Wege standen. In seiner Antwort hat der Rat kein solches Hindernis genannt. Der Bürgerbeauftragte ist deshalb der Ansicht, dass der Rat beschließen könnte, die Öffentlichkeit zu allen Tagungen zuzulassen, die er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber abhält, es sei denn, es gäbe gute Gründe dafür, dies nicht zu tun.

2.5 Der Bürgerbeauftragte hat die vom Rat vorgebrachten Argumente sorgfältig geprüft. Der Rat hat sich jedoch auf keine höherrangigen Grundsätze oder Ziele berufen, die ihn berechtigen könnten, die Zulassung der Öffentlichkeit zu den Tagungen, zu denen er als Gesetzgeber zusammentritt, abzulehnen. Der Bürgerbeauftragte stellt im Gegenteil fest, dass der Rat unterstrichen hat, er messe der Frage der Transparenz große Bedeutung bei. In seinem Schreiben an die Beschwerdeführer vom 19. November 2003 hat der Generalsekretär des Rates anerkannt, dass die Öffnung der legislativen Beratungen des Rates ein Anliegen sei, das – wie die bisherigen Beratungen des Konvents zeigen – weitestgehende Unterstützung finde.

2.6 In seiner Stellungnahme hat der Rat auf die bestehenden Mittel zur Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Tätigkeit des Rates als Gesetzgeber, u.a. die Möglichkeit, sich gemäß der Verordnung Nr. 1049/2001 Zugang zu Dokumenten zu verschaffen, hingewiesen. Der Bürgerbeauftragte ist der Ansicht, dass diese Mittel, so wichtig und empfehlenswert sie auch sein mögen, ohne Belang für diese Untersuchung sind, in der es um den Zugang zu den Tagungen des Rates und nicht um die Information über diese Tagungen geht.

3 Schlussfolgerung

Der Bürgerbeauftragte kommt deshalb zu dem Schluss, dass die Tatsache, dass der Rat es ablehnt, in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber öffentlich zu tagen, ohne dass er gute Gründe dafür anführt, einen Missstand darstellt.

Der Bürgerbeauftragte unterbreitet dem Rat deshalb gemäß Artikel 3 Absatz 6 des Statuts des Bürgerbeauftragten den folgenden Empfehlungsentwurf:

Empfehlungsentwurf

Der Rat der Europäischen Union sollte seine Weigerung, öffentlich zu tagen, wann immer er in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber tätig wird, überprüfen.

Der Rat und die Beschwerdeführer werden über diesen Empfehlungsentwurf unterrichtet werden. Gemäß Artikel 3 Absatz 6 des Statuts des Bürgerbeauftragten hat der Rat bis zum 28. Februar 2005 eine ausführliche Stellungnahme zu übermitteln. Die ausführliche Stellungnahme könnte darin bestehen, dass er sich mit der Entscheidung des Bürgerbeauftragten einverstanden erklärt und die Maßnahmen beschreibt, die zur Umsetzung des Empfehlungsentwurfs ergriffen wurden.

Straßburg, den 9. November 2004

 

Professor Dr. P. Nikiforos DIAMANDOUROS


(1) Beschluss 94/262 des Europäischen Parlaments vom 9. März 1994 über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten, ABl. L 113 vom 4.5.1994, S. 15.

(2) Seite 22-24.

(3) Siehe Jahresbericht für 2002, S. 19.

(4) Es mag sinnvoll sein, darauf hinzuweisen, dass Artikel 49 Absatz 2 des Entwurfs eines Verfassungsvertrags zu Artikel 50 Absatz 2 des Vertrags über eine Verfassung für Europa wurde und dass der Wortlaut leicht abgeändert wurde. Die entsprechende Bestimmung lautet nun wie folgt: ”Das Europäische Parlament tagt öffentlich; dies gilt auch für den Rat, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät oder abstimmt.”