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Entscheidung des Europäischen Bürgerbeauftragten zur Beschwerde 412/2003/GG gegen die Europäische Kommission


Straßburg, den 21. Juli 2003

Sehr geehrter Herr B.,

am 24.Februar 2003 legten Sie beim Europäischen Bürgerbeauftragten eine Beschwerde gegen die Europäische Kommission ein, die deren Weigerung betraf, Ihnen Zugang zu einem Gutachten ihres Juristischen Dienstes zu gewähren.

Am 11. März 2003 leitete ich die Beschwerde an den Präsidenten der Europäischen Kommission weiter. Die Kommission übermittelte ihre Stellungnahme am 12. Mai 2003. Diese leitete ich am 20. Mai 2003 an Sie weiter und bot Ihnen an, sich dazu zu äußern. Am 24. Juni 2003 sandten Sie Ihre Anmerkungen.

Mit diesem Schreiben möchte ich Ihnen die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchungen mitteilen.

DIE BESCHWERDE

Der Beschwerdeführer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Zentrum für Europäische Integrationsforschung (Universität Bonn). Er beantragte den Zugang zu einem Gutachten des Juristischen Dienstes der Kommission zum Verhältnis zwischen dem Euratom-Vertrag und dem EG-Vertrag im Hinblick auf Beihilferegelungen.

Der Antrag wurde am 23. Juli 2002 mit der Begründung abgelehnt, dass das Schriftstück unter die Ausnahmeregelung in Artikel 4 Absatz 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 falle. Ein Zweitantrag wurde mit derselben Begründung am 4. Oktober 2002 abgelehnt. In der letzteren Entscheidung erklärte die Kommission, dass in dem betreffenden Gutachten die rechtlichen Aspekte der Anwendbarkeit der Beihilferegelung des EG-Vertrags auf Atomkraftwerke behandelt würden. Sie fügte hinzu, dass auch die Gewährung eines teilweisen Zugangs zu diesem Gutachten nicht möglich sei, da alle seine Teile unlösbar miteinander verbunden seien.

In seiner Beschwerde an den Bürgerbeauftragten trug der Beschwerdeführer vor, dass die Haltung der Kommission nicht mit Artikel 255 EG-Vertrag sowie mit Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung 1049/2001 vereinbar sei. Das in Artikel 255 EG-Vertrag und Artikel 42 der Charta der Grundrechte der EU verankerte Recht der Bürger auf Information sei ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht, welches das in Artikel 1 des Vertrags über die Europäische Union normierte Transparenzgebot konkretisiere. Der Beschwerdeführer erklärte, dass die in Verordnung 1049/2001 aufgeführten Zugangsschranken eng ausgelegt werden müssen. Er vertrat die Auffassung, dass die Kommission diesen Grundsatz verletze, wenn sie die Herausgabe des in Frage stehenden Dokuments verweigere, ohne die Gründe des Antragstellers zu würdigen und gegen eigene Interessen abzuwägen. Die Kommission habe nicht ordnungsgemäß beurteilt, ob ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Herausgabe besteht. In diesem Zusammenhang wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass er das Dokument für seine wissenschaftliche Arbeit benötige, die unter Artikel 13 der Charta der Grundrechte der EU falle. Dies allein begründe bereits ein öffentliches Interesse an der Freigabe. Auch sein potenzieller Leserkreis habe ein Interesse an der Freigabe. Außerdem machte der Beschwerdeführer geltend, dass seine Einrichtung staatlich finanziert sei und ihr Sinn und Zweck darin bestehe, ein internationales Forum für alle Fragen der europäischen Integration zu bieten. Um dies erreichen zu können, sei die Einrichtung zwingend auf den größtmöglichen Zugang zu Dokumenten angewiesen. Es erscheine nur schwer vorstellbar, dass ein über zwei Jahre altes Dokument geeignet sein könnte, die Rechtssicherheit und die Stabilität der Rechtsordnung der Gemeinschaft zu gefährden. Abschließend brachte der Beschwerdeführer die Auffassung zum Ausdruck, dass im vorliegenden Fall keine zwingenden Gründe ersichtlich seien, die gegen eine teilweise Herausgabe sprechen würden.

DIE UNTERSUCHUNG

Die Stellungnahme der Kommission

In ihrer Stellungnahme führte die Kommission Folgendes aus:

Die Kommission bestreite nicht die grundsätzliche Richtigkeit der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente, dass das Recht der Bürger auf Information verfassungsrechtlich verbürgt sei und dass Zugangsschranken eng auszulegen seien. Diese Argumente seien jedoch im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Die Kommission habe die in Artikel 4 Absatz 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 vorgesehene Ausnahme in Übereinstimmung mit den für das Recht auf öffentlichen Zugang zu Kommissionsdokumenten geltenden allgemeinen Grundsätzen angewandt. Sie habe die Freigabe des betreffenden Dokuments verweigert, um die Unabhängigkeit der Rechtsberatung ihres Juristischen Dienstes zu schützen. Die europäischen Gerichte hätten anerkannt, dass die Gutachten des Juristischen Dienstes eines besonderen Schutzes bedürfen. Dies sei in einem Beschluss in der Rechtssache T-610/97 R, Carlsen u. a./Rat(1), im Urteil in der Rechtssache T-44/97, Ghignone u .a./Rat(2) und in einem Beschluss in der Rechtssache C-445/00, Österreich/Rat(3), bestätigt worden.

Die Verordnung bestimme eindeutig, dass ein Antragsteller seinen Antrag auf Zugang nicht begründen muss. Außerdem könne derjenige, der aufgrund eines Antrags nach der Verordnung 1049/2001 Zugang zu einem Dokument erhalten hat, dieses - im Rahmen der Grenzen des Artikels 16 dieser Verordnung - für alle Zwecke verwenden, es also auch veröffentlichen. Somit sei ein Dokument der Öffentlichkeit allgemein zugänglich, sobald es auf Antrag einer Person freigegeben wurde. Aus diesen Gründen sei die Kommission nicht verpflichtet gewesen, das Interesse des Beschwerdeführers an diesem Dokument gegen das Interesse des Schutzes der Rechtsberatung abzuwägen. Die Verordnung sehe eine solche Abwägung von Einzelinteressen nicht vor.

Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung bestimme: „Die Organe verweigern den Zugang zu einem Dokument, durch dessen Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde: (...) der Schutz (...) der Rechtsberatung, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung". Mit anderen Worten: das überwiegende öffentliche Interesse an der Verbreitung sei eine Ausnahme von der Ausnahme und nicht die Regel. Die Kommission schätze durchaus die Qualität der Veröffentlichungen der Einrichtung des Beschwerdeführers. Dennoch sei das öffentliche Interesse an der Freigabe dieses konkreten Gutachtens gegen das Interesse des Schutzes des - auf der unabhängigen Rechtsberatung ihres Juristischen Dienstes basierenden - ordnungsgemäßen Funktionierens der Kommission abzuwägen. Alles in allem sei die Kommission daher zu dem Schluss gelangt, dass in diesem Falle ein den Schutz der Effektivität ihrer Arbeit überwiegendes öffentliches Interesse nicht bestehe.

Abschließend betonte die Kommission erneut ihren Standpunkt, dass die Freigabe des begehrten Gutachtens das auf der unabhängigen Rechtsberatung ihre Juristischen Dienstes basierende ordnungsgemäße Funktionieren der Kommission beeinträchtigen würde. Das öffentliche Interesse an der Nicht-Freigabe überwiege eindeutig das öffentliche Interesse an der Freigabe des begehrten Gutachtens. Da das gesamte Dokument Rechtsfragen betreffe, sei es nicht möglich, Teile davon freizugeben.

Die Anmerkungen des Beschwerdeführers

In seinen Anmerkungen zur Stellungnahme der Kommission erhielt der Beschwerdeführer seine Beschwerde aufrecht und führte Folgendes aus:

Ein umfassender Zugang zu Dokumenten sei die Regel und jede Ausnahme müsse eng ausgelegt werden. Sowohl in der Rechtssache Carlsen als auch in der Rechtssache Ghignone sei der Zugang von den Gerichten nicht automatisch verweigert worden, sondern aus Gründen einer besonderen Schutzbedürftigkeit der betreffenden Dokumente, die sich aus einem laufenden Gesetzgebungsvorhaben bzw. einem anhängigen Rechtsstreit ergab. Diese Rechtsprechung stehe in Übereinstimmung mit der Position des Europäischen Bürgerbeauftragten(4), wonach ein Ausschluss von der Offenlegung nur bei denjenigen Rechtsgutachten zu erwägen ist, welche ein laufendes Rechtsetzungsverfahren betreffen oder die mit Blick auf anhängige Gerichtsverfahren erstellt werden.

Es lägen jedoch keine konkreten Umstände vor, welche in diesem Falle eine besondere Schutzbedürftigkeit der begehrten Dokumente ergeben. Die Kommission habe nicht geltend gemacht, dass das in Rede stehende Dokument für einen anhängigen Rechtsstreit oder für ein laufendes Rechtsetzungsverfahren benötigt wird.

DIE ENTSCHEIDUNG

1 Verweigerung des Zugangs zu einem Gutachten des Juristischen Dienstes

1.1 Der Beschwerdeführer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Zentrum für Europäische Integrationsforschung (Universität Bonn). Er beantragte den Zugang zu einem Gutachten des Juristischen 0Dienstes der Kommission zum Verhältnis zwischen dem Euratom-Vertrag und dem EG-Vertrag im Hinblick auf Beihilferegelungen. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass das Schriftstück unter die Ausnahmeregelung in Artikel 4 Absatz 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 falle. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass diese Entscheidung falsch sei, wobei er sich insbesondere darauf berief, dass er das betreffende Dokument für wissenschaftliche Zwecke benötige.

1.2 Die Kommission vertritt den Standpunkt, dass die Freigabe des begehrten Gutachtens das auf der unabhängigen Rechtsberatung ihres Juristischen Dienstes basierende ordnungsgemäße Funktionieren der Kommission beeinträchtigen würde. Ferner erklärt sie, dass das öffentliche Interesse an der Nicht-Freigabe das öffentliche Interesse an der Freigabe des betreffenden Dokuments klar überwiege. Da das gesamte Dokument Rechtsfragen betreffe, sei es nicht möglich, Teile davon freizugeben.

1.3 Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung bestimmt: „Die Organe verweigern den Zugang zu einem Dokument, durch dessen Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde: (...) der Schutz (...) der Rechtsberatung, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung." In einem Sonderbericht, der dem Parlament im Dezember 2002 vorgelegt wurde(5), vertrat der Europäische Bürgerbeauftragte die Auffassung, dass diese Ausnahme vom Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten nicht so auszulegen sei, als gelte sie für alle Gutachten des Juristischen Dienstes eines Organs. Wie in dem Sonderbericht dargelegt, wird ein solch undifferenziertes Herangehen nicht der durch Artikel 207 Absatz 3 EG-Vertrag anerkannten Notwendigkeit gerecht, einen umfassenderen Zugang zu Dokumenten zu gewähren, die mit der gesetzgeberischen Tätigkeit der EU im Zusammenhang stehen. Der Bürgerbeauftragte fügte hinzu, dies bedeute nicht, dass Rechtsgutachten, die sich auf die gesetzgeberische Tätigkeit der EU beziehen, stets offen zu legen sind, denn sie kommen nach wie vor für einen Schutz gemäß Artikel 4 Absatz 3 der Verordnung 1049/2001 in Frage(6).

1.4 Der Bürgerbeauftragte stellt fest, dass das vom Beschwerdeführer begehrte Dokument offenbar nicht im Rahmen des gesetzgeberischen Prozesses der EU erarbeitet wurde. Der Hauptgrund für die vom Bürgerbeauftragten vertretene Auffassung, dass Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung 1049/2001 nicht auf alle Gutachten des Juristischen Dienstes eines Organs anzuwenden sei, trifft also im vorliegenden Fall nicht zu. Unter diesen Umständen hält der Bürgerbeauftragte den Standpunkt der Kommission, wonach der Zugang zu dem begehrten Dokument nur gewährt werden sollte, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Freigabe besteht, nicht für unvernünftig.

1.5 Nach Ansicht des Bürgerbeauftragten geht aus dem Aufbau und Wortlaut der betreffenden Bestimmung hervor, dass das Vorliegen eines solchen „überwiegenden öffentlichen Interesses" normalerweise von der Person, die den Zugang beantragt, nachzuweisen ist. Im vorliegenden Fall hat sich der Beschwerdeführer vor allem darauf berufen, dass er das betreffende Dokument für wissenschaftliche Zwecke benötigt. Der Bürgerbeauftragte stimmt zu, dass diese Tatsache an sich ein öffentliches Interesse an der Freigabe begründet. Allerdings wird der Zugang zu Rechtsgutachten laut Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung 1049/2001 unter der Bedingung gewährt, dass ein „überwiegendes" öffentliches Interesse an der Verbreitung besteht. Würde man davon ausgehen, dass das Interesse an der wissenschaftlichen Nutzung eines Dokuments eine ausreichende Begründung für den Anspruch auf Zugang zu einem Rechtsgutachten darstellt, so wäre wohl das Anliegen von Artikel 4 Absatz 2 hinfällig geworden. Die Tatsache, dass das in Rede stehende Dokument bereits im Jahr 2000 erstellt wurde, ist an sich noch kein Nachweis für das Bestehen eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Verbreitung. Der Beschwerdeführer hat jedoch keine weiteren Argumente zur Untermauerung seines Standpunkts angeführt, die sich auf den Inhalt des betreffenden Dokuments beziehen. Somit hat der Beschwerdeführer nach Auffassung des Bürgerbeauftragten im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen, dass sein Interesse (und das Interesse seiner Einrichtung sowie seines potenziellen künftigen Leserkreises) das allgemeine Interesse an der Wahrung der Vertraulichkeit von Rechtsgutachten überwiegt, auf das Artikel 4 Absatz 2 abstellt.

1.6 In Anbetracht dessen gelangt der Bürgerbeauftragte zu dem Schluss, dass keine Anhaltspunkte für einen Missstand in der Verwaltungstätigkeit der Kommission vorliegen.

2 Schlussfolgerung

Die Untersuchungen des Bürgerbeauftragten zu dieser Beschwerde ergaben keine Anhaltspunkte für einen Missstand in der Verwaltungstätigkeit der Europäischen Kommission. Der Bürgerbeauftragte schließt den Fall daher ab.

Der Präsident der Kommission wird ebenfalls über diese Entscheidung unterrichtet werden.

Mit freundlichen Grüßen

 

Professor Dr. P. Nikiforos DIAMANDOUROS


(1) Slg. 1998, II-485.

(2) Slg. 2000, ÖD I-A-223; II-1023.

(3) Slg. 2002, I-9151.

(4) Sonderbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten vom 12. Dezember 2002 an das Europäische Parlament im Anschluss an den Empfehlungsentwurf an den Rat der Europäischen Union in der Beschwerdesache 1542/2000/(PB)/SM.

(5) Sonderbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten vom 12. Dezember 2002 an das Europäische Parlament im Anschluss an den Empfehlungsentwurf an den Rat der Europäischen Union in der Beschwerdesache 1542/2000/(PB)/SM; liegt auf der Website des Bürgerbeauftragten vor (http://www.ombudsman.europa.eu).

(6) Dieser Bestimmung zufolge wird der Zugang zu Dokumenten, die für den internen Gebrauch erstellt wurden, verweigert, wenn die Verbreitung des Dokuments den Entscheidungsprozess des Organs ernstlich beeinträchtigen würde, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.