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Sonderbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten an das Europäische Parlament im Anschluss an den Empfehlungsentwurf an die Europäische Kommission in der Beschwerde 3453/2005/GG

(In Übereinstimmung mit Artikel 3 Absatz 7 des Statuts des Europäischen Bürgerbeauftragten[1])

Einleitung

Der Bürgerbeauftragte ist der Ansicht, dass der vorliegende Fall eine wichtige Grundsatzfrage betreffend die Art und Weise aufwirft, wie die Europäische Kommission von Bürgern eingereichte Beschwerden bearbeitet, die einen angeblichen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht durch Mitgliedstaaten betreffen. Es geht darum, ob die Kommission, anstatt ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten oder die Beschwerde abzuweisen, einfach untätig bleiben kann. Der Bürgerbeauftragte ist der Auffassung, dass dies nicht den Grundsätzen guter Verwaltungspraxis entspricht.

Die Beschwerde

Beschwerde 2333/2003/GG (vertraulich)

Im November 2001 ersuchte der Beschwerdeführer, ein deutscher Arzt, die Europäische Kommission um Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass Deutschland im Hinblick auf die Tätigkeit von Ärzten in Krankenhäusern gegen die Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung[2] („Richtlinie 93/104") verstoße, insbesondere was den Bereitschaftsdienst dieser Ärzte betreffe. Nach Auffassung des Beschwerdeführers hatte dies beträchtliche Risiken sowohl für Mitarbeiter als auch für Patienten zur Folge. In diesem Zusammenhang stützte sich der Beschwerdeführer auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Simap (Rs. C-303/98, Simap, Slg. 2000, I-7963).

Die Kommission registrierte die Beschwerde unter dem Aktenzeichen 2002/4298.

In einer beim Bürgerbeauftragten im Dezember 2003 eingereichten Beschwerde (Beschwerde 2333/2003/GG) behauptete der Beschwerdeführer, die Kommission habe seine Vertragsverletzungsbeschwerde nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums behandelt.

Der Bürgerbeauftragte leitete daraufhin eine Untersuchung dieses Falles ein. In seiner Entscheidung vom 19. Mai 2004 zum Abschluss dieser Untersuchung stellte der Bürgerbeauftragte fest, dass in diesem Fall fast 15 Monate vergangen seien, bevor die Kommission begonnen habe, sich mit den vom Beschwerdeführer erhobenen Einwänden zu befassen, indem sie dem betreffenden Mitgliedstaat ein Ersuchen um Auskunft übermittelte. Unter diesen Umständen vertrat der Bürgerbeauftragte die Auffassung, dass die Kommission die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums behandelt habe. Dies stelle einen Fall von Missstand in der Verwaltungstätigkeit dar.

Der Bürgerbeauftragte stellte allerdings fest, dass Deutschland in der Zwischenzeit ein neues Gesetz erlassen habe, um die deutschen Rechtsvorschriften mit der Auslegung der Richtlinie 93/104 durch den Gerichtshof in Einklang zu bringen, und dass dieses neue Gesetz der Kommission am 6. Februar 2004 zur Kenntnis gebracht worden sei. Die Kommission müsse daher noch die Vereinbarkeit dieser neuen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht überprüfen, um die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers behandeln zu können. Diese Prüfung war zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bürgerbeauftragten noch anhängig. Da die Kommission anscheinend akzeptierte, dass ein weiteres Urteil (Rs. C-151/02, Jaeger, Slg. 2003, I-8389) die relevanten Rechtsfragen geklärt hatte, hatte der Bürgerbeauftragte keinen Grund zu der Annahme, dass es zu weiteren Verzögerungen bei der Behandlung der Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers kommen würde.

Der Bürgerbeauftragte vertrat daher die Auffassung, dass die beste Vorgehensmöglichkeit in diesem Fall darin bestehe, einen Missstand in der Verwaltungstätigkeit betreffend die Verzögerung in der Vergangenheit festzustellen. Er teilte allerdings dem Beschwerdeführer mit, dass es ihm frei stehe, eine neue Beschwerde beim Bürgerbeauftragten einzureichen, wenn die Kommission dennoch die Behandlung seiner Vertragsverletzungsbeschwerde weiter verzögern sollte.

Beschwerdesache 3453/2005/GG

Am 2. November 2005 wandte sich der Beschwerdeführer erneut an den Bürgerbeauftragten. In seiner neuen Beschwerde brachte der Beschwerdeführer vor, dass er keine weiteren Informationen darüber erhalten habe, welche Haltung die Kommission einzunehmen gedenke. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass die Kommission die Angelegenheit verschleppe und den Bürgerbeauftragten missachte.

Der Beschwerdeführer wiederholte somit im Wesentlichen die Behauptung aus seiner früheren Beschwerde, wonach die Kommission seine Vertragsverletzungsbeschwerde nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums behandelt habe.

Die Untersuchung

Die Stellungnahme der Kommission

In ihrer Stellungnahme gab die Kommission die folgenden Erklärungen ab:

Am 6. Dezember 2004 habe die Kommission an den Beschwerdeführer geschrieben. In diesem Schreiben teilte sie dem Beschwerdeführer mit, dass sie am 22. September 2004 einen Vorschlag für eine Änderung der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung[3] („Richtlinie 2003/88") angenommen hatte. Die Kommission wies darauf hin, dass sie die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers im Lichte dieses Vorschlags und der laufenden Diskussionen mit den anderen Organen der Gemeinschaft prüfen werde.

Der Beschwerdeführer habe daraufhin mehrere Schreiben an die Kommission gerichtet, in denen er Anmerkungen zu der vorgeschlagenen Änderung machte. In ihren Antwortschreiben habe die Kommission den Eingang der Schreiben des Beschwerdeführers bestätigt und erklärt, dass sie seine Anmerkungen zur Kenntnis genommen habe.

In zwei Schreiben vom 7. und 9. November 2005 habe der Beschwerdeführer die Kommission gebeten, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen Nichteinhaltung der Richtlinie 2003/88 einzuleiten.

In ihrer Antwort vom 22. November 2005 habe die Kommission dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass sie dem, was sie in ihrem Schreiben vom 6. Dezember 2004 gesagt habe, nichts hinzufügen könne. Die Kommission habe darauf hingewiesen, dass die Beratungen betreffend die Revision der Richtlinie 2003/88 noch im Gange seien. Sie habe erneut betont, dass sie die Beschwerde im Lichte des Änderungsvorschlags prüfen wolle. Die Kommission habe hinzugefügt, dass aus der ständigen Rechtsprechung hervorgehe, dass sie nach eigenem Ermessen entscheiden könne, ob sie Vertragsverletzungsverfahren einleitet oder fortsetzt.

Im Gegensatz zu dem, was der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde an den Bürgerbeauftragten behaupte, habe die Kommission ihm zweimal (am 6. Dezember 2004 und am 22. November 2005) ihre Haltung betreffend die von ihm eingereichte Vertragsverletzungsbeschwerde mitgeteilt. Obwohl die Kommission noch keinen Beschluss über die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen den betreffenden Mitgliedstaat gefasst habe, habe sie den Beschwerdeführer über die Art der Behandlung seiner Vertragsverletzungsbeschwerde und die Gründe für das Vorgehen der Kommission auf dem Laufenden gehalten.

Die Anmerkungen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer machte folgende Anmerkungen:

Keines der an ihn gerichteten Schreiben der Kommission sei mehr als eine Eingangsbestätigung. Aus diesen Schreiben gehe nicht hervor, dass sich die Kommission ernsthafte Gedanken über den Zweck der Arbeitszeitrichtlinie mache und vernünftige, für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen faire Vorschläge für Änderungen gemacht habe.

Die Punkte, die er in seinen Schreiben kritisiert habe, gingen über diejenigen hinaus, die von den Urteilen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Simap und Jaeger erfasst würden.

Seines Wissens sehe die Rechtsordnung der EU nicht die Möglichkeit vor, Gesetze und Urteile mit der Begründung außer Kraft zu setzen, dass die Kommission eine Neuregelung plane. Wenn die Tatsache, dass solche Vorschläge unterbreitet worden seien, zur Missachtung geltenden Rechts berechtige, sei die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften eine Farce.

Mit ihrem Verhalten beschädige die Kommission den Rechtsfrieden und begehe Rechtsbeugung.

Der Empfehlungsentwurf Bürgerbeauftragten

Der Empfehlungsentwurf

Am 12. September 2006 richtete der Bürgerbeauftragte gemäß Artikel 3 Absatz 6 seines Statuts den folgenden Entwurf einer Empfehlung[4] an die Kommission:

Die Kommission sollte die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers so schnell und so sorgfältig wie möglich bearbeiten.

Dieser Empfehlungsentwurf beruhte auf folgenden Erwägungen:

1 Der Bürgerbeauftragte stellte fest, dass die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers, die die Kommission unter dem Aktenzeichen 2002/4298 registriert hatte, einen angeblichen Verstoß gegen die Richtlinie 93/103 betraf. Diese Richtlinie war inzwischen durch die Richtlinie 2003/88 ersetzt worden, und in seinem Schriftwechsel mit der Kommission behauptete der Beschwerdeführer jetzt, Deutschland verstoße gegen diese Richtlinie. Diese Änderung der Rechtsvorschrift schien allerdings keine wesentlichen Auswirkungen auf die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers und ihre Behandlung durch die Kommission zu haben. In seinem Schreiben vom 7. November 2005 verwies der Beschwerdeführer auf einen angeblichen Verstoß gegen die Richtlinie 2003/88. In ihrer Antwort vom 22. November 2005 stellte die Kommission fest, sie habe dem Schreiben, das sie dem Beschwerdeführer am 6. Dezember 2004 zur Vertragsverletzungsbeschwerde 2002/4298 übermittelt hatte, nichts hinzuzufügen. Der Bürgerbeauftragte war daher der Auffassung, dass der Ersatz der Richtlinie 93/104 durch die Richtlinie 2003/88 für die vorliegende Beschwerde ohne Bedeutung war.

2 Der Bürgerbeauftragte stellte fest, dass die Kommission dem Beschwerdeführer in ihren Schreiben vom 6. Dezember 2004 und 22. November 2005 Auskunft erteilt hatte. Aus diesen Schreiben ging hervor, dass die Kommission beabsichtigte, die Vertragsverletzungsbeschwerde im Lichte ihres Vorschlags für eine Änderung der Richtlinie 2003/88 und der laufenden Beratungen mit den anderen EU-Organen zu behandeln. In ihrem Schreiben an den Beschwerdeführer vom 22. November 2005 wies die Kommission darauf hin, dass die Beratungen über die Revision der Richtlinie 2003/88 noch im Gange seien. Nach Auffassung des Bürgerbeauftragten folgte daraus, dass die Kommission anscheinend davon ausging, dass Artikel 211 des EG-Vertrags nicht von ihr verlangt, die Anwendung einer Richtlinie zu gewährleisten, die Gegenstand eines laufenden Legislativprozesses ist, der in Zukunft zu ihrer Änderung führen kann. Der Bürgerbeauftragte war deshalb der Auffassung, dass die Kommission den Beschwerdeführer, wenn auch nicht sehr ausführlich, über ihre Haltung informiert hatte.

3 Was die materiell-rechtliche Seite der Angelegenheit betraf, so musste darauf hingewiesen werden, dass die Kommission nach Artikel 211 des EG-Vertrags verpflichtet ist, „für die Anwendung dieses Vertrags sowie der von den Organen auf Grund dieses Vertrags getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen". Die der Kommission so zugewiesene Aufgabe kann mit der einer „Hüterin" des Vertrags verglichen werden. Die Kommission selbst hatte betont, dass diese Aufgabe „für die Interessen der europäischen Bürger wichtig ist".[5] Sie hatte auch die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit in diesem Zusammenhang anerkannt.[6] Von Bürgern eingereichte Beschwerden stellen eines der wichtigsten Mittel zur Information über eventuelle Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht dar und ermöglichen es somit der Kommission, die ihr in Artikel 211 des EG-Vertrags zugewiesene Aufgabe zu erfüllen. Der Bürgerbeauftragte war deshalb der Auffassung, dass es guter Verwaltungspraxis entspricht, solche Vertragsverletzungsbeschwerden möglichst rasch und sorgfältig zu behandeln.

4 Es lag auf der Hand, dass von den Organen der Gemeinschaft auf der Grundlage des EG-Vertrags angenommene Richtlinien zu den in Artikel 211 genannten „von den Organen auf Grund dieses Vertrags getroffenen Maßnahmen" gehören, die gemeinhin als Akte des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts bezeichnet werden. Nach Auffassung des Bürgerbeauftragten war es ferner sowohl aufgrund des Wortlauts als auch aufgrund des Zwecks dieser Bestimmung klar, dass sich Artikel 211 auf die Akte des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts bezieht, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in Kraft sind.

5 Die Kommission stellte nicht in Frage, dass die Richtlinie 93/104 in Kraft war, bis sie durch die Richtlinie 2003/88 ersetzt wurde, und dass die letztgenannte Richtlinie auch weiterhin in Kraft war. Dem Bürgerbeauftragten waren keine Regeln oder Grundsätze bekannt, die es der Kommission gestatten würden, die ihr durch Artikel 211 des EG-Vertrags auferlegte Pflicht mit der Begründung zu missachten, dass sie einen Vorschlag zur Änderung eines bestimmten Akts des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts eingereicht habe. Solange die vorgeschlagene Änderung der Richtlinie 2003/88 nicht vom Gesetzgeber der Gemeinschaft angenommen wurde, war die Richtlinie 2003/88 ihrer derzeitigen Form das geltende Recht.

6 In ihrem Schreiben an den Beschwerdeführer vom 22. November 2005 verwies die Kommission auf ihren Ermessensspielraum in diesem Bereich. Im Lichte der ständigen Rechtsprechung war klar, dass die Kommission, falls sie die Prüfung der Beschwerde abschließen und zu der Ansicht gelangen sollte, dass eine Vertragsverletzung vorliegt, nach eigenem Ermessen entscheiden könne, ob sie die Angelegenheit vor den Gerichtshof bringt oder nicht. Nichts in der Stellungnahme der Kommission oder in den von ihr vorgelegten Dokumenten deutete jedoch darauf hin, dass die Kommission bereits diese Phase ihrer Untersuchung erreicht hatte. Der Bürgerbeauftragte war der Auffassung, dass der unumstrittene Ermessensspielraum der Kommission sie nicht dazu berechtigt, die Entscheidung über eine Beschwerde auf unbestimmte Zeit zu vertagen, und zwar mit der Begründung, dass das anzuwendende Gesetz irgendwann in der Zukunft geändert werden könne.

7 In Anbetracht dieser Erwägungen vertrat der Bürgerbeauftragte die Auffassung, dass die Tatsache, dass die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers von der Kommission nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums bearbeitet wurde, einen Missstand in der Verwaltungstätigkeit darstellte. Es erschien nützlich, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die Vertragsverletzungsbeschwerde im April 2002 registriert worden war, also mehr als zwei Jahre, bevor die Kommission ihren Vorschlag für eine Änderung der Richtlinie 2003/88 unterbreitet hatte, und dass, als die vorliegende Beschwerde im November 2005 eingereicht wurde, über dreieinhalb Jahre vergangen waren, seit die Vertragsverletzungsbeschwerde eingereicht worden war.

Die begründete Stellungnahme der Kommission

Nachdem die Kommission den Empfehlungsentwurf erhalten hatte, übermittelte sie gemäß Artikel 3 Absatz 6 des Statuts des Europäischen Bürgerbeauftragten am 10. Januar 2007 eine begründete Stellungnahme, in der sie folgende Anmerkungen machte:

Die Kommission messe ihrer Rolle und ihrer Verantwortung als Hüterin des Vertrags große Bedeutung zu. Doch seien die in den Richtlinien enthaltenen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts nicht unwiderruflich festgelegt, sondern könnten geändert werden.

Die Richtlinie 93/104, die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers in Kraft gewesen sei, sei mit Wirkung vom 2. August 2004 durch die Richtlinie 2003/88 ersetzt worden. Die beiden Richtlinien würden hinsichtlich der vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Fragen nicht wesentlich voneinander abweichen.

Die Kommission habe allerdings im Jahre 2004 dem Parlament und dem Rat einen Vorschlag für eine Änderung der Richtlinie 2003/88 hinsichtlich verschiedener Aspekte, die für die Beschwerdesache von erheblicher Bedeutung seien, vorgelegt.

Die Kommission stimme mit dem Europäischen Bürgerbeauftragten darin überein, dass die fortwährende Rechtsgültigkeit der geltenden Richtlinie 2003/88 nicht dadurch beeinträchtigt werde, dass ein Änderungsvorschlag vorliege. Doch stehe es nach ständiger Rechtsprechung im Ermessen der Kommission, ob Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten angestrengt und wie solche Verfahren abgewickelt würden.[7] Im Rahmen ihrer Ermessensbefugnis habe die Kommission beschlossen, Vertragsverletzungsverfahren, die sich auf Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 beziehen, die nach ihrem eigenen Vorschlag wesentlich geändert werden sollten, solange nicht weiterzuverfolgen, bis der laufende Legislativprozess abgeschlossen sei.

Die Ermessensbefugnis der Kommission erstrecke sich auf alle Phasen der Bearbeitung von Beschwerden und der Durchführung von Vertragsverletzungsverfahren, einschließlich des Vorverfahrens.[8] In ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht[9] (die „Mitteilung") habe die Kommission festgelegt, dass sie in der Regel binnen eines Jahres ab dem Zeitpunkt der Registrierung der Beschwerde darüber entscheide, ob ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet oder der Vorgang eingestellt werde. Diese Verpflichtung schränke aber den Ermessensspielraum der Kommission in den Fällen, in denen wie im vorliegenden Fall eine andere, dem besonderen Sachverhalt eines Falls besser angepasste Vorgehensweise gerechtfertigt erscheine, nicht ein.

Wie der Bürgerbeauftragte festgestellt habe, sei es im Lichte der ständigen Rechtsprechung klar, dass die Kommission nach eigenem Ermessen entscheiden könne, ob eine Angelegenheit vor den Gerichtshof gebracht werde oder nicht, selbst wenn sie im Rahmen ihrer Prüfung einer Beschwerde festgestellt habe, dass ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt.

Die Kommission bedauere, dass der Rat noch keine Entscheidung über ihren Vorschlag getroffen habe. Die Verzögerungen seien auf Differenzen zwischen dem Rat und dem Parlament sowie zwischen den Mitgliedstaaten innerhalb des Rates zurückzuführen, auf die die Kommission keinen Einfluss habe. Der Vorschlag sei erneut auf einer Sondertagung des Rates am 7. November 2006 erörtert worden, doch sei kein Einvernehmen erzielt worden.

Der Bürgerbeauftragte werde gebeten, die vorstehenden Anmerkungen zur Ermessensbefugnis der Kommission zur Kenntnis zu nehmen und seinen Empfehlungsentwurf zu überprüfen.

Die Anmerkungen des Beschwerdeführers

In seinen Anmerkungen erhielt der Beschwerdeführer seine Beschwerde aufrecht. Er betonte, seine Vertragsverletzungsbeschwerde bei der Kommission betreffe auch Aspekte, die unabhängig von der Rechtsprechung des Gerichtshofs seien, so insbesondere (i) die Tatsache, dass die Klinikarbeitgeber „Bereitschaftsdienst" anordneten, obgleich Vollarbeit anfalle, und (ii) die Tatsache, dass auf Druck der Arbeitgeber geleistete Arbeitszeiten nicht dokumentiert würden. Der Beschwerdeführer brachte des Weiteren vor, die Kommission missachte auch weiterhin die Urteile des Gerichtshofs. Da es der Kommission und Kommissionsmitglied Špidla auch nach vier Jahren nicht gelungen sei, vernünftige Regelungen der Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen in der EU auf den Weg zu bringen, sollte Kommissionsmitglied Špidla seiner Meinung nach zurücktreten.

Die Beurteilung der begründeten Stellungnahme der Kommission durch den Bürgerbeauftragten

1 Der Bürgerbeauftragte stellt fest, dass die Kommission in ihrer Mitteilung aus dem Jahr 2002 bestimmte Verpflichtungen hinsichtlich der Bearbeitung von Vertragsverletzungsbeschwerden eingegangen ist.

2 Punkt 8 der Mitteilung legt Folgendes fest: „In der Regel entscheiden die Kommissionsdienststellen binnen eines Jahres ab dem Zeitpunkt der Eintragung im Generalsekretariat, ob eine Beschwerde Anlass zur Absendung einer Aufforderung zur Äußerung gibt oder ob der Vorgang eingestellt wird." Der Bürgerbeauftragte vertritt die Auffassung, dass diese Bestimmung bedeutet, dass die Kommission sich dazu verpflichtet hat, sich nach Kräften darum zu bemühen, ihre Prüfung der Beschwerde innerhalb eines Jahres abzuschließen, dass aber nicht ausgeschlossen wird, dass sie in bestimmten Fällen mehr Zeit benötigt. Dies wird durch den letzten Satz von Punkt 8 untermauert, worin es heißt: „Wird die Frist überschritten", so wird der Beschwerdeführer schriftlich davon unterrichtet. Nach Ansicht des Bürgerbeauftragten ist offensichtlich die Möglichkeit gegeben, dass die Kommission in schwierigen oder komplizierten Fällen für ihre Prüfung mehr als ein Jahr braucht. Der Bürgerbeauftragte vertritt jedoch die Auffassung, dass eine Überschreitung der einjährigen Frist nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Kommission einen Fall tatsächlich noch prüft.

3 Im vorliegenden Fall teilte die Kommission dem Beschwerdeführer mit, dass sie seine Vertragsverletzungsbeschwerde im Lichte ihres Vorschlags für eine Änderung der Richtlinie 2003/88 und ihrer Beratungen mit den anderen EU-Organen über diese Änderung prüfen werde. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass dieser Vorschlag bereits im September 2004 vorgelegt wurde. Nichts deutet darauf hin, dass die Kommission seither irgendwelche Schritte unternommen hat, um ihre Prüfung fortzusetzen.

4 Aus Punkt 8 der Mitteilung geht hervor, dass die Prüfung einer Vertragsverletzungsbeschwerde durch die Kommission zu einer von zwei möglichen Entscheidungen führen soll. Die Kommission kann entweder entscheiden, eine Aufforderung zur Äußerung abzusenden, d. h offiziell ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einzuleiten, oder den Vorgang einzustellen. Der Bürgerbeauftragte stellt jedoch fest, dass die Kommission im vorliegenden Fall weder das eine noch das andere getan hat. Anstatt eine der in Punkt 8 der Mitteilung vorgesehenen Entscheidungen zu treffen, ist die Kommission bezüglich der Prüfung der Beschwerde einfach untätig geblieben.

5 Der Bürgerbeauftragte vertritt die Auffassung, dass eine solche Vorgehensweise nicht mit den von der Kommission in ihrer Mitteilung eingegangenen Verpflichtungen in Einklang steht.

6 In ihrer begründeten Stellungnahme hat die Kommission mit Nachdruck auf ihre Ermessensbefugnis in diesem Bereich verwiesen und erklärt, diese erstrecke sich auf alle Phasen der Bearbeitung von Beschwerden und der Durchführung von Vertragsverletzungsverfahren, einschließlich des Vorverfahrens. Sie fügte hinzu, dass die in Punkt 8 der Mitteilung festgehaltene Verpflichtung ihre Ermessensbefugnis nicht einschränke, wenn eine andere Vorgehensweise gerechtfertigt erscheine. Der Bürgerbeauftragte kann diesen Standpunkt nicht akzeptieren. Die Mitteilung legt, wie dies in der Präambel bekräftigt wird, „die Verwaltungsmaßnahmen zugunsten des Beschwerdeführers" fest, „zu deren Einhaltung [die Kommission] sich bei der Bearbeitung seiner Beschwerde und der Prüfung des entsprechenden Vertragsverletzungsdossiers verpflichtet". Die in dieser Mitteilung enthaltenen Bestimmungen tragen der Ermessensbefugnis der Kommission in diesem Bereich Rechnung. Wäre die Kommission jedoch befugt, immer dann von den Bestimmungen der Mitteilung abzuweichen, wenn sie dies für gerechtfertigt hält, so wäre die Mitteilung ohne jegliche Bedeutung. Es sollte in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass die Mitteilung die Reaktion der Kommission auf mehrere vom Bürgerbeauftragten durchgeführte Untersuchungen und auf die vom Bürgerbeauftragten vorgebrachten Bemerkungen zu der Vorgehensweise der Kommission in Vertragsverletzungsfällen darstellt.

7 Der Bürgerbeauftragte stellt ferner fest, dass Punkt 9 der Mitteilung Folgendes festlegt: „Nach Abschluss der Beschwerdeprüfung können die Kommissionsdienststellen dem Kollegium vorschlagen, entweder mit einer Aufforderung zur Äußerung das Vertragsverletzungsverfahren gegen den betreffenden Mitgliedstaat einzuleiten oder den Fall als erledigt zu betrachten. Die Kommission entscheidet darüber nach Ermessen. (...)".

8 Der Bürgerbeauftragte respektiert die Ermessensbefugnis der Kommission bei der Bearbeitung von Vertragsverletzungsbeschwerden voll und ganz. Er ist jedoch der Auffassung, dass die Mitteilung im Allgemeinen und die Punkte 8 und 9 im Besonderen deutlich machen, dass diese Ermessensbefugnis im Rahmen der Mitteilung ausgeübt werden muss. Dies bedeutet, dass die Kommission bei der Bearbeitung einer Vertragsverletzungsbeschwerde die Wahl hat zwischen der Entscheidung, eine Aufforderung zur Äußerung abzusenden, und der Entscheidung, den Vorgang einzustellen. Die Kommission hat jedoch im vorliegenden Fall, wie bereits erwähnt, weder das eine noch das andere getan. Der Bürgerbeauftragte vertritt deshalb die Auffassung, dass die Tatsache, dass die Kommission hinsichtlich der Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu keiner Entscheidung gelangt ist, sich nicht mit der Ermessensbefugnis der Kommission rechtfertigen lässt.

9 In seinen Anmerkungen zur begründeten Stellungnahme der Kommission führte der Beschwerdeführer an, seine Vertragsverletzungsbeschwerde betreffe auch Aspekte, die von der Rechtsprechung des Gerichtshofs unabhängig seien, insbesondere (i) die Tatsache, dass die Klinikarbeitgeber „Bereitschaftsdienst" anordneten, obgleich Vollarbeit anfalle, und (ii) die Tatsache, dass auf Druck der Arbeitgeber geleistete Arbeitszeiten nicht dokumentiert würden. Dem Bürgerbeauftragten liegen keine Kopien des gesamten Schriftwechsels zwischen der Kommission und dem Beschwerdeführer in dieser Angelegenheit vor. Zumindest die erste der beiden genannten Fragen wurde aber offensichtlich vom Beschwerdeführer in seinem Schreiben vom 7. November 2005 aufgeworfen. Da sich die Vorgehensweise der Kommission im vorliegenden Fall darauf stützt, dass ein Vorschlag für eine Änderung der Richtlinie 2003/88 vorgelegt wurde, würde dieses Argument keinesfalls ausreichen, um zu erklären, warum sich die Kommission nicht mit den Fragen befasst hat, die nicht die vorgeschlagenen Änderungen betreffen. Da aber der Bürgerbeauftragte die Auffassung vertritt, dass die Kommission auf jeden Fall die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers bearbeiten sollte, müssen diese Fragen an dieser Stelle nicht ausführlicher behandelt werden.

10 Um jegliche Zweifel auszuschließen, ist es sinnvoll, klarzustellen, dass der vom Bürgerbeauftragten in diesem Fall festgestellte Missstand in der Verwaltungstätigkeit darin besteht, dass die Kommission in Bezug auf die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers keine endgültige Haltung eingenommen hat. Wie der Bürgerbeauftragte bereits in seinem Empfehlungsentwurf erklärt hat, könnte die Kommission, falls sie die Prüfung der Beschwerde abschließen und zu der Ansicht gelangen sollte, dass eine Vertragsverletzung vorliegt, nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie die Angelegenheit vor den Gerichtshof bringt oder nicht. Da eine solche Entscheidung bisher nicht von der Kommission getroffen wurde, ist es nicht nötig, dass der Bürgerbeauftragte die Frage erörtert, ob die Wahrnehmung dieser Ermessensbefugnis überhaupt von ihm untersucht werden könnte. In einer solchen Untersuchung könnte es auf jeden Fall lediglich darum gehen, ob die Kommission offenkundig die Grenzen ihres Ermessensspielraums in dem betreffenden Bereich überschritten hat. Der Bürgerbeauftragte kann jedoch nicht ausschließen, dass sich das Parlament in Ausübung seiner souveränen Rechte auch zu dieser Frage äußern möchte. In diesem Zusammenhang könnte eine von der Kommission am 20. September 2006 veröffentlichte Pressemitteilung, in der die Kommission auf den vom Bürgerbeauftragten in diesem Fall unterbreiteten Empfehlungsentwurf reagierte, für das Parlament von Interesse sein.[10]

11 Der Bürgerbeauftragte vertritt die Auffassung, dass der vorliegende Fall eine wichtige Grundsatzfrage betreffend die Art und Weise aufwirft, wie die Europäische Kommission von Bürgern eingereichte Beschwerden bearbeitet, die einen angeblichen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht durch Mitgliedstaaten betreffen. Es geht darum, ob die Kommission, anstatt ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten oder die Beschwerde abzuweisen, einfach untätig bleiben kann. Der Bürgerbeauftragte ist der Auffassung, dass dies nicht den Grundsätzen guter Verwaltungspraxis entspricht.

Die Empfehlung des Bürgerbeauftragten

Der Bürgerbeauftragte richtet deshalb die folgende Empfehlung an die Kommission, die seinem Empfehlungsentwurf entspricht:

Die Kommission sollte die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers so schnell und so sorgfältig wie möglich bearbeiten.

Das Europäische Parlament könnte die Annahme einer entsprechenden Entschließung in Erwägung ziehen.

Straßburg, den 10. September 2007

 

Professor Dr. P. Nikiforos DIAMANDOUROS

 


[1] Beschluss 94/262 des Europäischen Parlaments vom 9. März 1994 über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten, ABl. L 113 vom 4.5.1994, S. 15.

[2] ABl. L 307 von 1993, S. 18.

[3] ABl. L 299 von 2003, S. 9. Diese Richtlinie, die am 2. August 2004 in Kraft trat, ersetzt die Richtlinie 93/104 (und hebt diese auf).

[4] Der Wortlaut des Empfehlungsentwurfs kann auf der Website des Bürgerbeauftragten (http://www.ombudsman.europa.eu) nachgelesen werden.

[5] Siehe die Mitteilung der Kommission zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (KOM(2002)0725 endg. vom 16. Mai 2003, S. 3).

[6] Siehe Punkt 3.1 dieser Mitteilung.

[7] Rechtssache C-200/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, S. I-4299; Rechtssache C-317/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1994, S. I-2039; Rechtssache C-422/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, S. I-1097; Rechtssache C-207/97, Kommission/Belgien, Slg. 1999, S. I-275.

[8] Rechtssache C-207/97, Kommission/Belgien, Slg. 1999, S. I-275, Randnummer 24.

[9] KOM(2002)141; ABl. C 244 von 2002, S. 5.

[10] Diese Pressemitteilung enthält folgende Aussagen: „(...) Da fast alle Mitgliedstaaten die Gerichtsurteile zu missachten scheinen, hat Kommissionsmitglied Špidla den Rat darauf hingewiesen, wie dringlich es ist, zu einer ausgewogenen Lösung dieses Problems zu gelangen. (...) Es kann nicht hingenommen werden, dass Bürger unter der politischen Pattsituation zu leiden haben. Wenn sich die Minister nicht in den nächsten Monaten einigen, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Mitgliedstaaten in dieser Frage zu verklagen. Ich bin aber zuversichtlich, dass die finnische Präsidentschaft in den kommenden Wochen eine Lösung zustande bringt."